Alliandre faßte sich rasch. Tatsächlich schien sie am wenigsten von allen überrascht gewesen zu sein, und ihr Geruch veränderte sich nicht. »Ich sagte, daß es das klügste war, heimlich zu Euch zu kommen, Lord Aybara«, wiederholte sie mit dieser kühlen Stimme. »Lord Telabin glaubt, ich hielte mich allein in seinen Gärten auf, welche ich durch ein selten benutztes Tor verlassen habe. Und ich habe die Stadt als Annoura Sedais Dienerin verlassen.« Sie strich mit den Fingerspitzen über den Rock ihres Reitkleids und lachte leise. Selbst dieses Lachen klang bei ihr kühl, widersprach sehr dem, was ihm seine Nase vermittelte. »Einige meiner eigenen Soldaten haben mich gesehen, aber durch die hochgezogene Kapuze meines Umhangs hat mich niemand erkannt.«
»So wie die Dinge liegen, war das wahrscheinlich wirklich das klügste«, entgegnete Perrin vorsichtig. »Aber Ihr werdet Euch früher oder später doch zeigen müssen — auf die eine oder andere Art.« Höflich und doch direkt, das war der richtige Weg. Eine Königin würde keine Zeit mit einem Mann verschwenden wollen, der Unsinn redete. Außerdem wollte er Faile nicht enttäuschen. »Warum seid Ihr überhaupt selbst gekommen? Ihr hättet nur einen Brief schicken oder Berelain Eure Antwort mitzuteilen brauchen. Werdet Ihr Euch auf Rands Seite stellen oder nicht? Wie dem auch sei — sorgt Euch nicht um Eure sichere Rückkehr nach Bethal.« Das war eine gute Bemerkung. Was auch immer sie sonst befürchtete, so mußte sie schon allein die Tatsache ängstigen, ohne ihr Gefolge hier zu sein.
Faile beobachtete ihn, obwohl sie es nicht zu tun vorgab; sie trank ihren gewürzten Wein und lächelte Alliandre zu, aber er bemerkte ihre raschen Seitenblicke. Berelain gab nichts vor, sondern musterte ihn offen mit leicht verengten Augen und den Blick niemals von seinem Gesicht abwendend. Annoura wirkte ähnlich angespannt und ebenso aufmerksam. Glaubten sie alle, daß er sich wieder versprechen würde?
Anstatt auf seine Fragen einzugehen, sagte Alliandre: »Die Erste hat mir viel über Euch erzählt, Lord Aybara, und über den Wiedergeborenen Drachen, dessen Name vom Licht gesegnet sei.« Letzteres klang mechanisch, ein Zusatz, über den sie nicht mehr nachdenken mußte. »Ich kann ihm nicht gegenübertreten, bevor ich nicht meine Entscheidung getroffen habe, daher wollte ich Euch sprechen, um die Lage einschätzen zu können. Man kann viel durch jene über einen Mann erfahren, die befugt sind, für ihn zu sprechen,« Sie neigte den Kopf über den Becher in ihren Händen und sah Perrin durch gesenkte Lider an. Bei Berelain wäre das Schäkern gewesen, aber nicht bei Alliandre. »Ich habe auch Eure Banner gesehen«, sagte sie gefaßt. »Die Erste hatte sie nicht erwähnt.«
Perrin runzelte die Stirn, bevor er es verhindern konnte. Berelain hatte ihr viel über ihn erzählt? Was hatte sie gesagt? »Die Banner sollen gesehen werden.« Die Verärgerung verlieh seiner Stimme eine Rauheit, die er nur mühsam unterdrücken konnte. Nun, Berelain war eine Frau, die angeschrien werden mußte. »Glaubt mir, es gibt keine Pläne, Manetheren wiederzuerrichten.« So, jetzt war sein Tonfall ebenso kühl wie der Alliandres. »Wie entscheidet Ihr Euch? Rand kann im Handumdrehen zehntausend — hunderttausend — Soldaten nach Ghealdan bringen.« Und das würde er vielleicht auch tun müssen. Die Seanchaner in Amador und in Ebou Dar? Licht, wie viele waren es?
Alliandre trank von ihrem gewürzten Wein, bevor sie antwortete, und sie wich der Frage erneut aus. »Es gibt tausend Gerüchte, wie Ihr sicher wißt, und selbst das wildeste ist glaubhaft, wenn der Drache wiedergeboren ist. Fremde tauchen auf, die behaupten, Artur Falkenflügels Heere seien zurückgekehrt, und die Burg selbst ist durch Aufruhr gespalten.«
»Eine Angelegenheit der Aes Sedai«, sagte Annoura barsch. »Das geht niemanden sonst etwas an.« Berelain warf ihr einen verärgerten Blick zu, den sie nicht zu bemerken vorzog.
Alliandre zuckte zusammen und wandte der Schwester die Schulter zu. Königin oder nicht —niemand wollte diesen Tonfall von einer Aes Sedai hören. »Die Welt verkehrt sich, Lord Aybara. Nun, man hat mir sogar von Aiel berichtet, die ein Dorf hier in Ghealdan plünderten.« Perrin erkannte jäh, daß es hier um mehr ging als nur um die Angst, Aes Sedai zu beleidigen. Alliandre beobachtete ihn abwartend. Aber worauf wartete sie? Auf Beruhigung?
»Die einzigen Aiel in Ghealdan sind bei mir«, belehrte er sie. »Die Seanchaner mögen vielleicht Abkömmlinge von Artur Falkenflügels Heer sein, aber Falkenflügel ist seit eintausend Jahren tot. Rand hat sich ihnen bereits einmal entgegengestellt, und er wird es wieder tun.« Er erinnerte sich an Falme ebenso deutlich wie an die Brunnen von Dumai, obwohl er es zu vergessen versucht hatte. Gewiß reichten die Truppen Seanchaner nicht aus, um Amador und Ebou Dar einzunehmen, selbst mit ihren Damane nicht. Balwer behauptete, es wären auch tarabonische Soldaten beteiligt. »Und vielleicht freut es Euch zu hören, daß jene aufrührerischen Aes Sedai Rand unterstützen. Zumindest werden sie es bald tun.« Das hatte Rand jedenfalls gesagt. Einige wenige Aes Sedai, die nirgendwo anders hingehen konnten als zu ihm. Perrin war sich dessen nicht so sicher. Die Gerüchte in Ghealdan dichteten den Schwestern ein Heer an. Natürlich berichteten die gleichen Gerüchte bei dieser Hand voll von mehr Aes Sedai, als es auf der ganzen Welt gab, aber dennoch... Licht, er wünschte, jemand würde ihn beruhigen! »Warum setzen wir uns nicht«, sagte er. »Ich werde alle Eure Fragen beantworten, um Euch bei Eurer Entscheidung zu helfen, aber wir können es uns dabei ebensogut bequem machen.« Er zog einen der Faltstühle zu sich heran und dachte erst im letzten Moment daran, sich nicht einfach hineinfallen zu lassen, aber er knarrte dennoch unter ihm.
Lini und die beiden anderen Diener zogen eilig Stühle zu einem Kreis um den seinen heran, aber keine der anderen Frauen trat zu ihnen. Alliandre stand da und sah Perrin an, während die übrigen sie beobachteten. Bis auf Gallenne, der sich einen weiteren Becher Wein aus dem Silberkrug eingoß.
Perrin fiel auf, daß Faile, seit die Händler erwähnt wurden, kein Wort mehr gesagt hatte. Für Berelains Schweigen war er ebenso dankbar wie für die Tatsache, daß sie nicht beschlossen hatte, vor der Königin mit ihm zu schäkern, aber er hätte gerade jetzt ein wenig Unterstützung von Faile gebrauchen können. Einen kleinen Rat. Licht, sie wußte zehnmal mehr als er darüber, was er hier sagen und tun sollte.
Er fragte sich, ob er wie die anderen stehen sollte, stellte den gewürzten Wein auf einem der kleinen Tische ab und bat Faile, mit Alliandre zu sprechen. »Wenn jemand der Königin den richtigen Weg weisen kann, dann du«, sagte er. Faile lächelte ihm erfreut zu, hielt aber den Mund.
Alliandre streckte jäh ihren Becher von sich, als erwarte sie, daß dort ein Tablett stünde. Es wurde ihr gerade noch rechtzeitig eines gereicht, und Maighdin, die es hielt, murrte etwas. Perrin hoffte, daß Faile es nicht gehört hatte. Faile verabscheute es, wenn Diener diese Sprache benutzten. Er wollte sich gerade erheben, als Alliandre sich ihm näherte, aber zu seinem Entsetzen kniete sie anmutig vor ihm nieder und ergriff seine Hände. Bevor er erkannte, was sie beabsichtigte, drehte sie ihre Hände, so daß sie mit den Handrücken zueinander zwischen seinen Handflächen lagen. Sie klammerte sich so fest an ihn, daß ihre Hände schmerzen mußten. Und er war sich keineswegs sicher, sich von ihr lösen zu können, ohne ihr weh zu tun.