Die Steinmauern und Paläste in Cairhien hatten sie nicht halb so stark beeindruckt. Dieses Gebäude war farblich wie ein Wagen der Verlorenen gehalten, aber dennoch großartig. Die Vermutung hätte nahegelegen, daß es sich diese Leute bei so vielen Bäumen leisten konnten, alles aus Holz zu erbauen. Konnte niemand außer ihr erkennen, wie reich dieses Land war? Es verrichteten mehr weißgekleidete Gai'schain ihre Aufgaben, als alle zwanzig Septimen jemals zuvor beschäftigt hatten, fast halb so viele wie Jumai! Niemand beschwerte sich mehr darüber, daß Feuchtländer zu Gai'schain gemacht wurden. Sie waren so fügsam! Ein junger Mann mit großen Augen in grobem Leinen eilte, einen Korb umklammernd, vorüber, starrte die Menschen um ihn an und stolperte über den Saum seines Gewands. Sevanna lächelte. Der Vater dieses Mannes hatte sich der Herr dieses Ortes genannt und getobt, sie und ihr Volk würden für ihre Ausschreitungen gejagt werden, aber jetzt trug er Weiß und arbeitete ebenso hart wie sein Sohn, seine Frau und seine anderen Töchter und Söhne. Die Frauen hatten viel edlen Schmuck und wunderschöne Seide besessen, und Sevanna hatte nur die erste Auswahl getroffen. Ein reiches Land und so ergiebig.
Die Frauen hinter ihr waren am Rande des Waldes jäh stehengeblieben, um miteinander zu sprechen. Sie hörte ihre Worte, was ihre Stimmung jäh wieder umschlagen ließ.
»...wie viele Aes Sedai für diese Seanchaner kämpfen«, sagte Tion gerade. »Das müssen wir in Erfahrung bringen.« Someryn und Modarra murmelten zustimmend.
»Ich halte das nicht für bedeutsam«, warf Rhiale ein. Zumindest erstreckte sich ihre Widerspenstigkeit auch auf andere. »Ich glaube nicht, daß sie kämpfen werden, wenn wir sie nicht angreifen. Denkt daran, sie haben nichts getan, ehe wir gegen sie vorgingen, nicht einmal, um sich zu verteidigen.«
»Und als sie sich wehrten«, sagte Meira ärgerlich, »sind dreiundzwanzig von uns gestorben! Und mehr als zehntausend Algai d'siswai sind ebenfalls nicht zurückgekehrt. Wir sind hier kaum noch ein Drittel, selbst wenn man die Bruderlosen mitzählt.« Sie sprach diesen Namen verächtlich aus.
»Das war Rand al'Thors Werk!« belehrte Sevanna sie scharf. »Anstatt zu beklagen, was er gegen uns unternommen hat, denkt lieber darüber nach, was wir tun können, wenn er uns gehört!« Wenn er mir gehört, dachte Sevanna. Die Aes Sedai hatten ihn gefangengenommen und einige Zeit festgehalten, aber sie besaß etwas, was sie nicht besessen hatten, sonst hätten sie es benutzt. »Denkt statt dessen daran, daß wir die Aes Sedai fast besiegt hatten, bis er sich auf ihre Seite schlug. Aes Sedai sind nichts!«
Ihre Bemühungen, den Mut der Frauen zu schüren, hatten erneut keine sichtbare Wirkung. Sie konnten sich nur daran erinnern, daß die Speere bei dem Versuch, Rand al'Thor gefangenzunehmen, zerbrochen worden waren, und sie mit ihnen. Modarra hätte ihre gesamte Septime verlieren können, und selbst Tion runzelte unbehaglich die Stirn und erinnerte sich zweifellos daran, daß auch sie wie eine verängstigte Ziege davongelaufen war.
»Weise Frauen«, meldete sich eine männliche Stimme hinter Sevanna zu Wort, »ich wurde geschickt, Euch um Eure Meinung zu bitten.«
Sofort wurden die Mienen aller Frauen wieder gleichmütig. Was sie nicht erreichte, hatte er schon durch seine bloße Anwesenheit geschafft. Keine Weise Frau würde jemand anderem als einer anderen Weisen Frau gestatten, sie die Haltung verlieren zu sehen. Alarys hörte auch auf, über ihr Haar zu streichen, das sie über die Schulter gelegt hatte. Offensichtlich erkannte keine von ihnen den Mann. Sevanna aber glaubte ihn zu erkennen.
Er betrachtete sie ernst mit seinen grünen Augen, die weitaus älter wirkten als sein glattes Gesicht. Er besaß volle Lippen, aber um seinen Mund lag ein Zug, als hätte er vergessen, wie man lächelt. »Ich bin Kinhuin von den Meradin. Die Jumai sagen, wir dürften diesen Platz nicht gleichermaßen benutzen, weil wir keine Jumai sind, aber der wahre Grund ist, daß nur halb so viele Jumai wie Algai d'siswai hier sind. Die Bruderlosen bitten um Eure Meinung, Weise Frauen.«
Jetzt, da sie wußten, wer er war, konnten einige ihr Mißfallen über die Männer, die Clan und Septime aufgaben, um lieber zu den Shaido zu gehen als zu Rand al'Thor — ein Feuchtländer und kein wahrer Car'a'carn, wie sie glaubten —, nicht verbergen. Tions Gesicht wurde einfach ausdruckslos, aber Rhiales Augen funkelten, und Meira wollte die Stirn runzeln. Nur Modarra zeigte Anteilnahme, aber sie hätte andererseits auch versucht, einen Streit zwischen Baummördern zu schlichten.
»Diese sechs Weisen Frauen werden ein Urteil fällen, nachdem sie beide Seiten gehört haben«, belehrte Sevanna Kinhuin mit ebenbürtigem Ernst.
Die anderen Frauen sahen sie an und verbargen ihre Überraschung darüber, daß sie auf eine Entscheidung verzichten wollte, nur ungenügend. Sie hatte es arrangiert, daß zehnmal so viele Mera'din die Jumai begleiteten, wie mit jeder anderen Septime gezogen waren. Sie hatte tatsächlich Caddar im Verdacht gehabt, wenn auch nicht für das, was er getan hatte, und sie hatte so viele Speere bei sich haben wollen wie möglich. Außerdem konnten sie jederzeit statt der Jumai sterben.
Sie heuchelte Überraschung über die Überraschung der anderen. »Es wäre nicht gerecht, wenn ich Partei ergriffe, da meine eigene Septime darin verwickelt ist«, belehrte sie die anderen Frauen, bevor sie sich wieder dem grünäugigen Mann zuwandte. »Sie werden gerecht urteilen, Kinhuin. Und ich bin sicher, daß sie für die Mera'din sprechen werden.«
Die anderen Frauen sahen sie finster an, bevor Tion Kinhuin jäh bedeutete vorauszugehen. Er mußte seinen Blick von Sevanna losreißen, um der Aufforderung nachzukommen. Sie beobachtete mit leisem Lächeln — er hatte sie angesehen, nicht Someryn —, wie sie in der Menge der Leute auf dem Gelände des Gutshauses verschwanden. Auch wenn sie die Bruderlosen nicht mochten und sie dem Mann gegenüber Voraussagen über ihre Entscheidung äußerte, bestand die Möglichkeit, daß sie tatsächlich so entscheiden würden. Wie auch immer — Kinhuin würde sich erinnern und es den anderen seiner sogenannten Gemeinschaft mitteilen. Sie hatte die Jumai bereits in der Tasche, aber alles, was die Mera'din an sie band, war ebenfalls willkommen.
Sevanna wandte sich um und schritt wieder auf den Wald zu, nicht auf die Stallungen. Jetzt, da sie allein war, konnte sie sich um etwas weitaus Wichtigeres kümmern als um die Bruderlosen. Sie tastete nach etwas, das sie unten in ihre Bluse gesteckt hatte, wo ihre Stola es verbarg. Sie hätte es gespürt, wenn es auch nur um Haaresbreite verrutscht wäre, aber sie wollte seine glatte Länge mit den Fingern spüren. Keine Weise Frau würde es mehr wagen, sie niedriger einzustufen als sich selbst, wenn sie dies erst benutzt hatte — vielleicht schon heute. Und eines Tages würde es ihr Rand al'Thor verschaffen. Immerhin könnte Caddar, wenn er einmal gelogen hatte, auch in anderer Hinsicht gelogen haben.
Galina Casban sah die Weise Frau, die sie abschirmte, durch einen Tränenschleier an. Als wäre der Schild der schlanken Frau nötig gewesen. Im Moment hätte sie nicht einmal die Quelle umarmen können. Zwischen zwei Töchtern des Speers mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzend, richtete Belinde ihre Stola und lächelte dünn, als kenne sie Galinas Gedanken. Sie hatte ein schmales, fuchsähnliches Gesicht, und ihr Haar und die Augenbrauen waren von der Sonne fast weiß gebleicht. Galina wünschte, sie hätte ihren Schädel zerschmettert, anstatt sie nur geschlagen zu haben.