»Eine Entscheidung mußte ohne Euch getroffen werden«, sagte Tion mit tonloser Stimme.
»Ihr sprecht als Clanhäuptling, wie Ihr so häufig betont«, fügte Emerys hinzu, ein spöttisches Funkeln in den großen grauen Augen. »Weise Frauen müssen manchmal miteinander sprechen, ohne daß ein Clanhäuptling zuhört. Oder jemand, der als Clanhäuptling spricht.«
»Wir haben beschlossen«, sagte Therava, »daß Ihr den Rat einer Weisen Frau ebenso braucht wie ein Clanhäuptling. Ich werde Euch beraten.«
Sevanna richtete ihre Stola und betrachtete die ihr gegenüberstehenden Frauen. Ihre Miene war unlesbar. Wie machte sie das? Sie konnten sie wie ein Ei unter einem Hammer zerschmettern. »Und welchen Rat gebt Ihr mir, Therava?« fragte sie schließlich mit eisiger Stimme.
»Mein dringender Rat lautet, unverzüglich aufzubrechen«, erwiderte Therava ebenso eisig. »Diese Seanchaner sind zu nahe und in der Überzahl. Wir sollten nach Norden in die Verschleierten Berge ziehen und ein Lager errichten. Von dort können wir Gruppen auf die Suche nach den anderen Septimen schicken. Es könnte lange dauern, die Shaido wieder zu vereinen, Sevanna. Euer Feuchtländer-Freund hat uns vielleicht in alle neun Ecken der Welt verstreut. Bis zur Wiedervereinigung sind wir verwundbar.«
»Wir werden morgen aufbrechen.« Wäre Galina sich nicht sicher gewesen, Sevanna in- und auswendig zu kennen, hätte sie geglaubt die Frau klänge sowohl verdrießlich als auch ärgerlich. Ihre grünen Augen blitzten. »Wir ziehen jedoch ostwärts. Auf diese Weise entfernen wir uns auch von den Seanchanern, und die Länder im Osten sind im Aufruhr, reif zum Pflücken.«
Es entstand ein langes Schweigen. Dann nickte Therava. »Ostwärts.« Sie sprach das Wort sanft aus, die Sanftheit von seidenverhülltem Stahl. »Aber denkt daran, daß Clanhäuptlinge stets bedauern mußten, wenn sie den Rat einer Weisen Frau zu häufig abwiesen. Das könnte auch Euch passieren.« Ihre Miene drückte gleichermaßen Drohung aus wie ihre Stimme, und doch lachte Sevanna!
»Denkt Ihr daran, Therava! Denkt Ihr alle daran! Wenn ich den Geiern überlassen werde, gilt das für Euch alle ebenfalls! Dafür habe ich gesorgt,«
Alle Frauen außer Therava wechselten besorgte Blicke, und Modarra und Norlea runzelten die Stirn.
Auf Knien zusammengesunken und wimmernd in dem vergeblichen Versuch, ihre brennende Haut mit den Händen zu besänftigen, fragte Galina sich, was diese Drohungen bedeuteten. Der Gedanke bahnte sich seinen Weg nur mühsam durch Verbitterung und Selbstmitleid. Alles, was sie gegen diese Frauen verwenden könnte, wäre willkommen. Wenn sie es zu benutzen wagte. Ein bitterer Gedanke.
Sie erkannte jäh, daß sich der Himmel verfinsterte. Wolken zogen von Norden heran, grau und schwarz gestreift, und verdunkelten die Sonne. Doch aus den Wolken fielen in der Luft umherwirbelnde Schneeschauer. Sie erreichten den Boden nicht, kamen kaum bis zu den Baumspitzen, aber Galina riß den Mund auf. Schnee! Hatte der Große Herr seinen Griff um die Welt aus einem unbestimmten Grund gelockert?
Die Weisen Frauen starrten ebenfalls mit offenem Mund in den Himmel, als hätten sie noch niemals Wolken, geschweige denn Schnee gesehen.
»Was ist das, Galina Casban?« verlangte Therava zu wissen. »Sprecht, wenn Ihr es wißt!« Sie wandte den Blick nicht vom Himmel ab, bis Galina ihr erklärte, es sei Schnee, und als sie sich abwandte, tat sie es lachend. »Ich habe bereits vermutet, daß die Männer, die Laman Baummörder niederstreckten, mit ihren Erzählungen über Schnee gelogen hätten. Dies könnte nicht einmal eine Maus behindern!«
Galina versagte es sich, sie über wahre Schneefälle aufzuklären, erschreckt, daß sie beinahe um Gunst gebuhlt hatte. Erschreckt auch über das geringe Vergnügen daran, ihr Wissen zurückgehalten zu haben. Ich bin die Höchste der Roten Ajah! mahnte sie sich selbst. Und ich bekleide einen hohen Rang der Schwarzen Ajah! Es klang wie Lügen. Es war nicht richtig!
»Da wir hier fertig sind«, sagte Sevanna, »werde ich die Gai'schain zurückbringen und dafür sorgen, daß sie weiße Kleidung bekommt. Ihr könnt hierbleiben und den Schnee anstarren, wenn Ihr wollt.« Ihre Stimme klang so butterweich, daß niemand geglaubt hätte, sie könnte nur Augenblicke früher schrill geklungen haben. Sie schlang sich ihre Stola über die Ellbogen und richtete einige ihrer Halsketten. Nichts auf der Welt kümmerte sie mehr.
»Wir werden uns um die Gai'schain kümmern«, erwiderte Therava ebenso weich. »Da Ihr als Clanhäuptling sprecht, habt Ihr noch einen langen Tag und den größten Teil der Nacht vor Euch, wenn wir morgen aufbrechen wollen.« Sevannas Augen blitzten noch einmal kurz auf, aber Therava schnippte nur mit den Fingern und vollführte eine scharfe Geste zu Galina, bevor sie sich zum Gehen wandte. »Kommt mit mir«, sagte sie. »Und hört auf zu schmollen.«
Galina erhob sich mühsam mit gesenktem Kopf und folgte eilig Therava und den anderen Frauen, welche die Macht lenken konnten. Schmollen? Sie hatte vielleicht die Stirn gerunzelt, aber niemals geschmollt! Ihre Gedanken rasten wie Ratten im Käfig, ohne eine Hoffnung auf Flucht zu entdecken. Es mußte Hoffnung geben! Es mußte eine geben! Ein Gedanke, der in all dem Tumult an die Oberfläche gelangte, ließ sie fast wieder in Tränen ausbrechen. Waren die Gewänder der Gai'schain weicher als das kratzige schwarze Tuch, das sie bisher hatte tragen müssen? Es mußte einen Ausweg geben! Ein schneller Blick zurück zum Wald zeigte ihr, daß Sevanna noch immer unbewegt dastand und ihnen nachsah. Über ihnen wirbelten die Wolken umher, aber der herabfallende Schnee schmolz wie Galinas Hoffnungen dahin.
12
Neue Bündnisse
Graendal wünschte, unter den Gegenständen, die sie nach Sammaels Tod aus Illian fortgeschafft hatte, befände sich ein einfacher Umwandler. Dieses Zeitalter war erschreckend gewöhnlich, barbarisch und unangenehm. Dennoch gefiel ihr auch einiges. In einem großen Bambuskäfig am entgegengesetzten Ende des Raums trällerten hundert buntgefiederte Vögel, in ihrem vielfarbigen Umherhuschen fast so schön wie ihre beiden Lieblinge in ihren durchscheinenden Gewändern, die zu beiden Seiten der Tür warteten, die Blicke auf sie gerichtet und bestrebt, ihrem Vergnügen zu dienen. Auch wenn Öllampen nicht dasselbe Licht wie Glühbirnen verströmten, sorgten sie doch mit Hilfe der großen Spiegel an den Wänden für einen gewissen ungezügelten Glanz an der vergoldeten, wie Fischschuppen gearbeiteten Decke. Es wäre schon erfreulich gewesen, die Worte nur aussprechen zu müssen, aber sie tatsächlich mit eigener Hand zu Papier zu bringen, verschaffte ihr ein ähnliches Vergnügen wie das Skizzieren. Die Schrift dieses Zeitalters war recht einfach, und es war auch nicht schwer gewesen, den Stil eines anderen Menschen kopieren.
Sie signierte das Schriftstück mit einem Schnörkel —natürlich nicht mit ihrem eigenen Namen —, streute Sand darüber, faltete es und versiegelte es mit einem der Siegelringe verschiedener Größen, die auf ihrem Schreibtisch eine hübsch anzusehende Reihe bildeten: Die Hand und das Schwert von Arad Doman auf einen unregelmäßigen Kreis blauen und grünen Wachs gepreßt.
»Bringt dies rasch zu Lord Ituralde«, befahl sie, »und sagt nur, was ich Euch auf getragen habe.«
»So schnell mich Pferde tragen können, meine Lady.« Nazran verbeugte sich, während er den Brief entgegennahm, und strich mit einem Finger über seinen dünnen schwarzen Schnurrbart über einem einnehmenden Lächeln. Stämmig und tiefbraun, in einer gut sitzenden blauen Jacke, sah er gut aus. Aber nicht gut genug. »Ich erhielt dies von Lady Tuva, die an ihren Verletzungen starb, nachdem sie mir gesagt hatte, sie sei ein Bote von Alsalam und sei von einem Grauen Mann angegriffen worden.«