»Ihr seid Da'tsang, Beldeine. Das müßt Ihr doch schon gehört haben.« Sie brauchte Beldeines knappes Nicken nicht. Eine Geschmähte zu benennen war genauso Teil der Aiel-Gesetze, wie ein Urteil zu verkünden. So viel wußte sie, wenn auch kaum mehr. »Eure Kleidung wurde verbrannt, weil kein Aiel etwas besitzen möchte, was einst einer Da'tsang gehört hat. Alles übrige wurde zerhackt oder zerschlagen und unter einer für eine Latrine ausgehobenen Grube vergraben.«
»Auch mein ... mein Pferd?« fragte Beldeine angstvoll.
»Die Pferde haben sie nicht getötet, aber ich weiß nicht, wo Eures ist.« Es wurde wahrscheinlich an einen Städter verkauft oder war vielleicht einem Asha'man überlassen worden. Ihr das zu sagen, könnte vielleicht mehr schaden als nützen. Verin erinnerte sich daran, daß Beldeine eine jener jungen Frauen war, die sehr tief für ihre Pferde empfanden. »Sie lassen Euch den Ring behalten, um Euch daran zu erinnern, wer Ihr wart, und um Eure Scham zu verstärken. Ich weiß nicht, ob sie Euch al'Thor Treue schwören lassen würden, wenn Ihr darum batet. Es würde wohl etwas Unglaubliches von Eurer Seite erfordern.«
»Das würde ich ohnehin nicht tun! Niemals!« Die Worte klangen jedoch hohl, und Beldeines Schultern sackten herab. Sie war erschüttert, aber noch nicht in ausreichendem Maße.
Verin setzte ein herzliches Lächeln auf. Jemand hatte ihr einmal gesagt dieses Lächeln erinnere ihn an seine geliebte Mutter. Sie hoffte, daß er zumindest in diesem Punkt nicht gelogen hatte. Er hatte kurz darauf versucht, ihr einen Dolch zwischen die Rippen zu stoßen, und ihr Lächeln war das letzte gewesen, was er jemals gesehen hatte. »Ich kann mir keinen Grund denken, warum Ihr es tun würdet. Nein, ich fürchte, Ihr habt nur sinnlose Arbeit vor Euch. Das halten sie für beschämend. Zutiefst beschämend. Wenn sie natürlich erkennen, daß Ihr es nicht so seht... Oje. Ich wette, es hat Euch nicht gefallen, nackt zu graben, selbst wenn Töchter des Speers Euch bewachten, aber stellt Euch einmal vor, so in einem Zelt voller Männer zu stehen.« Beldeine zuckte zusammen. Verin plauderte weiter. Sie hatte das Plaudern zu einem Talent entwickelt. »Sie würden Euch natürlich nur dort stehen lassen. Da'tsang ist es nicht erlaubt, etwas Nützliches zu tun, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, und ein Aiel-Mann würde genauso bereitwillig einen Arm um einen verwesenden Kadaver legen wie... Nun, das ist wohl kein erfreulicher Gedanke. Auf jeden Fall steht Euch genau das bevor. Ich weiß, daß Ihr so lange widerstehen werdet wie möglich, obwohl ich mir nicht sicher bin, wogegen es zu widerstehen gilt. Sie werden sich nicht die Mühe machen, Informationen aus Euch herauszubekommen, oder etwas anderes versuchen, was Menschen gewöhnlich mit Gefangenen tun. Aber sie werden Euch auch nicht gehen lassen, niemals, bis sie sicher sind, daß Ihr die Scham so tief empfindet, daß nichts sonst übrigbleibt. Auch nicht, wenn dies Euer restliches Leben lang dauert.«
Beldeines Lippen bewegten sich lautlos, aber sie hätte die Worte ebensogut aussprechen können. Mein restliches Leben lang. Sie regte sich unbehaglich auf ihrem Kissen und verzog schmerzvoll das Gesicht, vielleicht aufgrund des Sonnenbrandes oder der Striemen oder einfach wegen der ungewohnten Arbeit. »Wir werden gerettet werden«, sagte sie schließlich. »Die Amyrlin wird uns nicht im Stich... Wir werden gerettet werden, oder wir werden... Wir werden gerettet werden.« Sie ergriff jäh den neben ihr stehenden Silberbecher, legte den Kopf zurück, trank ihn leer und streckte ihn dann Verin entgegen, um mehr zu bekommen. Diese ließ den Zinnkrug hinüberschweben und stellte ihn ab, so daß die junge Frau sich selbst etwas eingießen konnte.
»Oder Ihr werdet entkommen?« fragte Verin, und Beldeines schmutzige Hände zuckten, so daß Wasser über den Becherrand schwappte. »Seid doch vernünftig — Ihr werdet ebensowenig entkommen, wie Ihr gerettet werdet. Ihr seid von einem Heer von Aiel umgeben. Und al'Thor kann offensichtlich einige hundert dieser Asha'man ausheben, wann immer er will, um Euch zu verfolgen.« Die andere Frau erschauderte bei diesen Worten, und Verin fast ebenfalls. Dieses nichtige Durcheinander hätte beendet werden müssen, sobald es begonnen hatte. »Nein, ich fürchte, Ihr müßt irgendwie Euren eigenen Weg gehen. Nehmt die Dinge, wie sie sind. Ihr seid hierbei ganz allein. Ich weiß, daß sie Euch nicht mit anderen sprechen lassen. Ihr seid ganz allein«, sagte sie seufzend. Weite Augen starrten sie an, wie sie vielleicht eine rote Viper angestarrt hätten. »Wir müssen es nicht schlimmer machen, als es ist. Laßt mich Euch Heilen.«
Sie wartete kaum, bis die andere Frau jämmerlich nickte, bevor sie sich neben sie kniete und beide Hände um Beldeines Kopf legte. Die junge Frau war überaus bereit. Verin öffnete sich für weiteres Saidar und wob die Stränge des Heilens, und die Grüne keuchte und zitterte. Der halb gefüllte Becher entglitt ihren Händen, und ihr um sich schlagender Arm stieß den Krug um. Jetzt war sie vollkommen bereit.
In den Augenblicken der Verwirrung, die jedermann ergriffen, der Geheilt worden war, während Beldeine noch blinzelte und wieder zu sich zu kommen versuchte, öffnete sich Verin durch das wie eine Blume gestaltete Angreal in ihrer Tasche noch weiter. Es war kein sehr mächtiges Angreal, aber sie brauchte hierfür jedes bißchen zusätzlicher Macht, die es ihr gewähren konnte. Die Stränge, die sie nun zu weben begann, ähnelten nicht den Strängen des Heilens. Geist überwog bei weitem, aber da waren auch Wind und Wasser, Feuer und Erde, wobei letzteres ihr einige Schwierigkeiten bereitete, und selbst die mit Geist gewobenen Stränge mußten immer wieder geteilt und so kompliziert angeordnet werden, daß ein Weber edler Teppiche als Stümper dagestanden hätte. Selbst wenn eine Weise Frau den Kopf ins Zelt streckte, würde sie wohl kaum das seltene Talent besitzen, das notwendig war, um zu erkennen, was Verin tat. Es würde vielleicht dennoch Schwierigkeiten geben, schmerzliche Schwierigkeiten der einen oder anderen Art, aber sie konnte mit allem leben, was nicht die tatsächliche Entdeckung bedeutete.
»Was...?« fragte Beldeine benommen. Sie hätte geschwankt, wenn Verin sie nicht festgehalten hätte, und ihre Lider waren halbwegs geschlossen. »Was habt Ihr...? Was geht hier vor?«
»Ihr werdet keinen Schaden erleiden«, sagte Verin beruhigend. Die Frau könnte als Ergebnis dieser Behandlung innerhalb eines Jahres sterben oder in zehn Jahren, aber das Gewebe selbst würde ihr keinen Schaden zufügen. »Ich verspreche Euch, daß dies keine Gefahr darstellt, daß es sogar bei einem Kind angewandt werden kann.« Natürlich hing es davon ab, was man damit tat.
Sie mußte die Stränge Faden für Faden anordnen, und zu reden schien dabei eher hilfreich als hinderlich. Zudem könnte ein zu langes Schweigen Mißtrauen wecken, wenn ihre beiden Wächter lauschten. Ihr Blick schweifte häufig zum Zelteingang. Sie wollte einige Antworten in Erfahrung bringen, die sie nicht zu teilen beabsichtigte. Antworten, die keine der Frauen, die sie befragte, bereitwillig gaben, selbst wenn sie etwas wußten. Eine der geringeren Wirkungen dieses Gewebes war, daß es ebensogut die Zunge loste und den Geist öffnete wie jedes narkotische Kraut, eine Wirkung, die schnell eintrat.