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«Weshalb bist du nur so zappelig, Ernst«, fragt mein Vater,»du hast noch keine Viertelstunde hintereinander ruhig geses- sen.«

«Vielleicht ist er übermüdet«, meint meine Mutter.

«Nein«, antworte ich etwas verwirrt und denke nach,»das nicht. Aber ich glaube fast, ich kann nicht mehr so lange auf einem Stuhl sitzen. Im Felde hatten wir keine, lagen wir immer herum, wie es gerade traf. Ich bin es einfach nicht mehr gewöhnt.«

«Komisch«, sagt mein Vater.

Ich zucke die Achseln. Meine Mutter lächelt.»Warst du schon in deinem Zimmer?«fragt sie.

«Noch nicht«, erwidere ich und gehe hinüber. Mir schlägt das Herz, als ich die Tür öffne und im Dunkeln den Geruch der Bücher atme. Hastig knipse ich das Licht an. Dann blicke ich mich um.»Es ist alles genau so geblieben«, sagt meine Schwester hinter mir.

«Ja, ja«, antworte ich abwehrend, denn ich möchte jetzt lieber allein sein. Doch die ändern kommen auch schon. Sie bleiben in der Tür stehen und blicken mich aufmunternd an. Ich setze mich in den Lehnstuhl und lege die Hände auf die Tischplatte. Sie fühlt sich glatt und kühl an. Ja, alles ist so geblieben. Da liegt sogar noch immer der Briefbeschwerer aus braunem Marmor, den mir Karl Vogt geschenkt hat. Er hat seinen Platz wie früher neben dem Kompaß und dem Tintenfaß. Aber Karl Vogt ist am Kemmel gefallen.

«Gefällt dir das Zimmer nicht mehr?«fragt meine Schwester.

«Doch«, sage ich zögernd,»aber es ist so klein. —«

Mein Vater lacht.»Es war doch früher genau so.«

«Das wohl«, gebe ich zu,»aber ich habe gemeint, es wäre viel größer. —«

«Du warst so lange nicht hier, Ernst«, sagt meine Mutter.

Ich nicke.»Das Bett wird noch frisch überzogen«, fährt sie fort,»da mußt du jetzt nicht hinsehen.«

Ich taste nach meiner Rocktasche. Adolf Bethke hat mir zum Abschied ein Päckchen Zigarren geschenkt. Ich muß jetzt eine davon rauchen. Alles ist so lose um mich herum, als wäre mir etwas schwindlig. Ich ziehe den Rauch tief in die Lungen und fühle, daß es schon besser wird.

«Zigarren rauchst du?«fragt mein Vater überrascht und beinahe vorwurfsvoll.

Verwundert sehe ich ihn an.»Natürlich«, erwidere ich,»die gehörten doch zur Verpflegung draußen. Jeden Tag standen uns drei oder vier zu. Willst du auch eine haben?«

Kopfschüttelnd nimmt er sie.»Früher hast du überhaupt nicht geraucht.«

«Ja, früher — «, sage ich und muß ein bißchen über ihn lächeln, weil er soviel Wesen davon macht. Früher hätte ich allerdings auch das nicht getan. Aber die Scheu vor älteren Leuten hat sich im Schützengraben verloren. Da waren wir alle gleich.

Verstohlen sehe ich nach der Uhr. Ein paar Stunden bin ich erst hier, aber mir ist, als wären es ein paar Wochen, seit ich Willy und Ludwig nicht mehr gesehen habe. Am liebsten möchte ich rasch einmal zu ihnen laufen; denn noch kann ich mir nicht vorstellen, daß ich jetzt für immer in der Familie bleiben soll, noch habe ich das Gefühl, daß wir morgen, übermorgen, irgendwann wieder marschieren werden, Schulter an Schulter, fluchend, ergeben, aber dicht zusammen. —

Schließlich stehe ich auf und hole meinen Mantel vom Korridor.»Willst du heute abend nicht bei uns bleiben?«fragt meine Mutter.»Ich muß mich noch melden«, sage ich, denn das andere würde sie doch nicht verstehen.

Sie geht mit mir bis zur Treppe.»Warte«, sagt sie,»es ist ja dunkel, ich bringe ein Licht. —«

Überrascht bleibe ich stehen. Ein Licht? Für die paar Treppenstufen? Herrgott, durch wieviel verschlammte Trichter, über wieviel zerwühlte Anmarschwege habe ich mich jahrelang ohne Licht in schwerem Feuer nachts zurechtfinden müssen — und jetzt ein Licht für eine Treppe? Ach Mutter! — Aber ich warte geduldig, bis sie mit der Lampe kommt und mir leuchtet, und es ist, als streichelte sie mich im Dunkel.

«Sei vorsichtig, Ernst, daß dir draußen nichts geschieht«, ruft sie mir nach.

«Was soll mir denn geschehen, hier in der Heimat, hier im Frieden, Mutter?«sage ich lächelnd und blicke zu ihr hinauf.

Sie beugt sich über das Geländer. Ihr kleines, zerfurchtes Gesicht ist golden beschattet vom Lampenschirm. Unwirklich wehen die Schatten und Lichter hinter ihr über den Flur. Und plötzlich schwankt etwas in mir, eine seltsame Rührung packt mich, fast wie ein Schmerz — als gäbe es nichts auf der Welt als dieses Gesicht, als wäre ich wieder ein Kind, dem man auf der Treppe leuchten muß, ein Junge, dem auf der Straße etwas geschehen kann, und alles andere dazwischen nur Spuk und Traum. —

Aber das Licht der Lampe fängt sich zu einem scharfen Reflex in meinem Koppelschloß. Die Sekunde verfliegt, ich bin kein Kind, ich trage eine Uniform. Rasch springe ich die Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal, und stoße die Haustür auf, begierig, zu meinen Kameraden zu kommen.

Zuerst besuche ich Albert Troßke. Seine Mutter hat verweinte Augen, doch das gehört heute ja dazu und ist nicht weiter schlimm. Aber Albert ist auch nicht der alte, er hockt wie ein nasser Pudel am Tisch. Neben ihm sitzt sein älterer Bruder. Ich habe ihn lange nicht gesehen und weiß nur, daß er im Lazarett gelegen hat. Er ist dick geworden und hat schöne rote Backen.»Tag, Hans, wieder gesund«, sage ich lustig,»wie geht's, wie steht's? Auf zwei Beinen immer noch am besten, was?«

Er murmelt etwas Unverständliches. Frau Troßke schluckt auf und geht hinaus. Albert macht mir ein Zeichen mit den Augen. Verständnislos blicke ich mich um. Dann sehe ich, daß Hans neben seinem Stuhl Krücken liegen hat.»Noch immer nicht in Ordnung?«frage ich.

«Doch«, antwortet er,»vorige Woche aus dem Lazarett entlassen. «Er greift nach den Krücken, stützt sich auf und schwingt sich mit zwei Sätzen zum Ofen. Beide Füße fehlen ihm. Rechts hat er eine eiserne Prothese, links schon ein Gestell mit einem Schuh daran.

Ich schäme mich über meine dumme Redensart.»Hab's nicht gewußt, Hans«, sage ich.

Er nickt. Die Füße sind ihm in den Karpaten erfroren, dann ist Brand hinzugekommen, und schließlich hat man sie abnehmen müssen.

«Gott sei Dank, nur die Füße!«Frau Troßke hat ein Kissen geholt und schiebt es unter die Prothesen.»Laß nur, Hans, wir werden es schon machen, du wirst schon wieder laufen lernen. «Sie setzt sich neben ihn und streichelt seine Hände.

«Ja«, sage ich, um etwas zu sagen,»die Beine hast du wenigstens noch.«

«Mir reicht es auch so«, antwortet er.

Ich gebe ihm eine Zigarette. Was soll man machen in solchen Augenblicken — alles ist roh, wenn man es auch noch so gut meint. Wir sprechen zwar etwas, mühsam und stockend, aber wenn einer von uns aufsteht, Albert oder ich, und hin und her geht, merken wir, wie Hans uns auf die Füße schaut, mit einem dunklen, gequälten Blick, und wie die Augen seiner Mutter denselben Weg suchen — immer nur auf die Füße — hin und her — ihr habt Füße — ich habe keine. —

Er kann wohl vorläufig nichts anderes denken — und seine Mutter kümmert sich nur um ihn. Sie sieht nicht, daß Albert darunter leidet. Er ist ganz scheu geworden in den paar Stunden.»Du, wir müssen uns noch melden«, sage ich zu ihm, um einen Grund anzugeben, damit er fortgehen kann.

«Ja«, sagt er rasch.

Draußen atmen wir auf. Der Abend spiegelt sich weich auf dem nassen Pflaster. Laternen flackern im Wind. Albert sieht starr geradeaus.»Ich kann doch nichts daran ändern, Ernst«, beginnt er stockend,»aber wenn ich so dazwischensitze und ihn sehe und seine Mutter, dann meine ich zuletzt, ich sei schuld, und ich schäme mich, weil ich noch zwei Füße habe. Ganz gemein kommt man sich vor, weil man so heil ist. Wenn man wenigstens noch einen Armschuß hätte, wie Ludwig, dann stände man doch nicht ganz so aufreizend da. —«