Ich versuche, ihn zu trösten. Doch er blickt zur Seite. Es überzeugt ihn nicht, was ich auch sage — aber mich erleichtert es wenigstens. So ist es ja immer mit Trost.
Wir gehen zu Willy. In seinem Zimmer sieht es wüst aus. Das Bett steht zerlegt an der Wand. Es muß größer gemacht werden, denn Willy ist beim Militär so gewachsen, daß er nicht mehr hineinpaßt. Bretter, Hämmer und Sägen liegen umher. Auf einem Stuhl glänzt eine gewaltige Schüssel Kartoffelsalat. Er selbst ist nicht da. Seine Mutter erzählt, daß er seit einer Stunde in der Waschküche sei, um sich sauber zu schrubben. Wir warten.
Frau Homeyer kniet vor Willys Tornister und kramt darin. Kopfschüttelnd holt sie einige dreckige Fetzen heraus, die früher einmal ein Paar Strümpfe gewesen sind.»Lauter Löcher«, murmelt sie und sieht Albert und mich mißbilligend an.
«Kriegsware«, sage ich und zucke die Achseln.
«So, Kriegsware?«erwidert sie ärgerlich,»was ihr nicht alles wißt! Beste Wolle war das! Acht Tage bin ich rumgelaufen, bis ich sie gekriegt habe. Und jetzt sind sie schon hin. Aber neue gibt's nirgendwo. «Bekümmert sieht sie die Reste an.»Soviel Zeit habt ihr im Krieg doch sicher jede Woche mal gehabt, um schnell ein Paar reine Strümpfe anzuziehen. Vier Paar hat er das letztemal mitgenommen. Nur zwei hat er wieder mitgebracht. Und die noch so!«Sie fährt mit der Hand durch die Löcher.
Ich will Willy gerade in Schutz nehmen, da kommt er selbst triumphierend mit gewaltigem Gebrüll hereingestürmt.»Das nennt die Welt Schwein haben! Ein Kochgeschirraspirant! Heute abend gibt es noch Hühnerfrikassee!«
In der Hand trägt er wie eine Fahne einen dicken Hahn. Die grüngoldenen Schwanzfedern schimmern, der Kamm leuchtet purpurn, am Schnabel hängen noch ein paar Blutstropfen. Obschon ich gut gegessen habe, läuft mir das Wasser im Munde zusammen.
Willy schwenkt das Tier selig hin und her. Frau Homeyer richtet sich auf und stößt einen Schrei aus.»Willy! Wo hast du den her?«
Willy berichtet stolz, daß er ihn soeben hinter dem Schuppen gesichtet, gefangen und geschlachtet habe, alles in zwei Minuten. Er klopft seiner Mutter auf den Rücken.»Das haben wir draußen gelernt. Willy war nicht umsonst mal stellvertretender Küchenbulle.«
Sie sieht ihn an, als hätte er eine Bombe verschluckt. Dann ruft sie nach ihrem Mann. Gebrochen stöhnt sie:»Oskar, sieh dir das an — er hat Bindings Zuchthahn geschlachtet!«
«Wieso Binding?«fragt Willy.
«Der Hahn gehört doch Binding nebenan! Dem Milchhändler! O Gott, wie konntest du so was machen?«Frau Homeyer sinkt auf einen Stuhl.
«Ich werde doch solch einen Braten nicht laufen lassen«, sagt Willy erstaunt,»das hat man schon so im Griff.«
Frau Homeyer kann sich nicht beruhigen.»Das wird ja was geben! Dieser Bindung ist solch ein Wutkopp!«
«Wofür hältst du mich eigentlich?«fragt Willy jetzt ernstlich beleidigt,»meinst du denn, mich hätte nur eine Maus gesehen? Ich bin doch kein Anfänger! Es ist genau der zehnte, den ich erwische. Ein Jubiläumshahn! Den können wir in voller Ruhe essen, dieser Binding hat keine Ahnung davon. «Er schüttelt ihn zärtlich.»Du sollst mir schmecken! Wollen wir ihn kochen oder braten?«
«Glaubst du denn, ich werde ein Stück davon essen?«ruft Frau Homeyer außer sich,»sofort bringst du ihn zurück!«
«Ich bin doch nicht verrückt«, erklärt Willy.
«Du hast ihn doch gestohlen«, klagt sie verzweifelt.
«Gestohlen?«Willy bricht in ein Gelächter aus.»Das wäre ja noch schöner. Requiriert ist der! Besorgt! Gefunden! — Gestohlen? Wenn man Geld wegnimmt, da kann man von Stehlen reden, aber doch nicht, wenn man was zu fressen schnappt. Da hätten wir schon viel gestohlen, Ernst, was?«
«Aber klar«, sage ich,»der Hahn ist dir zugelaufen, Willy. Genau wie damals der vom Batterieführer der Zweiten in Staden. Weißt du noch, wie du daraus für die ganze Kompanie Hühnerfrikassee gemacht hast? Eins zu eins — ein Huhn auf ein Pferd?«Willy grinst geschmeichelt und tupft mit der Hand auf die Platte des Kochherdes.
«Kalt«, sagt er enttäuscht und wendet sich an seine Mutter.»Habt
ihr denn keine Kohlen?«
Frau Homeyer ist vor Aufregung die Sprache weggeblieben. Sie kann nur den Kopf schütteln. Willy winkt begütigend.»Besorge ich morgen auch. Einstweilen können wir ja dann diesen alten Stuhl hier nehmen, der ist sowieso nichts mehr wert.«
Frau Homeyer sieht ihren Sohn erneut fassungslos an. Dann reißt sie ihm erst den Stuhl und darauf den Hahn aus den Fingern und tritt den Weg zu Milchhändler Binding an.
Willy ist ehrlich entrüstet.»Da geht er hin und singt nicht mehr«, sagt er schwermütig.»Verstehst du das, Ernst?«
Daß wir den Stuhl nicht nehmen können, obschon wir im Felde einmal ein ganzes Klavier verbrannt haben, um einen Apfelschimmel weich zu kriegen, verstehe ich zur Not. Und daß wir hier zu Hause nicht mehr dem unwillkürlichen Zucken unserer Hände nachgeben dürfen, obwohl draußen alles Freßbare Sache des Glücks und nicht der Moral war, begreife ich vielleicht auch noch. Aber daß der Hahn, der doch nun mal tot ist, zurückgebracht wird, wo sogar ein Rekrut schon wissen müßte, daß so was nur unnütze Scherereien gibt, das finde ich ganz und gar blödsinnig.
«Wenn das Mode wird, verhungern wir hier noch, paß auf«, behauptet Willy aufgewühlt.»In einer halben Stunde hätten wir das schönste Hühnerfrikassee gehabt, wenn wir unter uns gewesen wären. Ich hätte uns eine gelbe Soße dazu gemacht.«
Er läßt den Blick zwischen Kochherd und Tür hin und her wandern.»Am besten ist es, wir verschwinden«, schlage ich vor,»hier gibt's nur noch dicke Luft.«
Aber Frau Homeyer kommt schon zurück.»Er war nicht zu Hause«, sagt sie atemlos und will aufgeregt weitersprechen, da sieht sie, daß Willy sich angezogen hat. Darüber vergißt sie alles.»Du willst schon weg?«
«Bißchen Patrouille gehen, Mama«, sagt er lachend.
Sie beginnt zu weinen. Willy klopft ihr verlegen auf die Schulter.»Ich komme ja wieder. Jetzt kommen wir ja immer wieder. Viel zu oft, paß mal auf…«
Seite an Seite, mit großen Schritten, die Hände in den Taschen, gehen wir die Schloßstraße entlang.»Wollen wir Ludwig nicht abholen?«frage ich.
Willy schüttelt den Kopf.»Lieber schlafen lassen. Ist besser für ihn.«
Die Stadt ist unruhig. Lastautos mit Matrosen rasen über die Straßen. Rote Fahnen flattern.
Vor dem Rathaus werden Stöße von Flugblättern abgeladen und verteilt. Die Leute reißen sie den Matrosen aus den Händen und überfliegen sie gierig. Ihre Augen glänzen. Ein Windstoß faßt in die Packen und wirbelt die Bekanntmachungen wie einen Schwarm weißer Tauben hoch. Die Blätter fangen sich in den kahlen Ästen der Bäume und bleiben dort raschelnd hängen.»Kameraden«, sagt ein alter Mann in einem feldgrauen Mantel neben uns,»Kameraden, jetzt wird es besser. «Sein Mund zittert.»Verdammt, hier scheint was los zu sein«, sage ich.
Wir verdoppeln unsere Schritte. Je näher wir zum Domhof kommen, desto stärker wird das Gedränge. Der Platz ist voller Menschen. Auf den Stufen des Theaters steht ein Soldat und redet. Das kreidige Licht einer Karbidlampe flackert über sein Gesicht. Wir können nicht richtig verstehen, was er spricht, denn der Wind faucht in langen, unregelmäßigen Stößen über den Platz und bringt vom Dom jedesmal eine Welle Orgelmusik mit, in der die dünne, abgehackte Stimme beinahe ertrinkt.
Eine aufregende, ungewisse Spannung lagert über dem Platz. Die Menge steht wie eine Mauer. Fast alles Soldaten. Viele mit ihren Frauen. Die schweigsamen, verschlossenen Gesichter haben denselben Ausdruck wie im Felde, wenn sie unter den Stahlhelmen hinweg nach dem Feinde spähten. Aber in den Blicken liegt jetzt plötzlich noch etwas anderes: die Ahnung einer Zukunft, die unfaßbare Erwartung eines anderen Lebens. — Vom Theater her kommen Rufe. Ein dumpfes Brausen antwortet.