«Kinder, jetzt geht's ran!«sagt Willy begeistert. Arme heben sich. Ein Ruck geht durch die Menge. Die Reihen geraten in Bewegung. Ein Zug formiert sich. Schreie ertönen:»Vorwärts, Kameraden!«Wie ein gewaltiger Atemzug rauscht der Marschtritt über das Pflaster. Wir schwenken ohne Besinnen ein.
Rechts von uns geht ein Artillerist. Vor uns ein Pionier. Gruppe fügt sich zu Gruppe. Nur wenige kennen sich. Trotzdem sind wir sofort miteinander vertraut. Soldaten brauchen nichts voneinander zu wissen. Sie sind Kameraden, das ist genug.»Los, Otto, komm auch mit!«ruft der Pionier vor uns einem anderen zu, der stehengeblieben ist.
Der zögert. Er hat seine Frau bei sich. Sie schiebt ihren Arm unter den seinen und sieht ihn an. Er lächelt verlegen:»Nachher, Franz. «Willy zieht eine Grimasse.»Wenn die Unterröcke erst dazwischen kommen, ist die richtige Kameradschaft bald zum Deubel, paßt mal auf!«
«Ach Quatsch«, erwidert der Pionier und gibt ihm eine Zigarette,»Weiber sind das halbe Leben. Bloß alles zu seiner Zeit.«
Wir fallen unwillkürlich in Gleichschritt. Das ist ein anderes Marschieren als sonst. Das Pflaster dröhnt, und wie ein Blitz fliegt über den Kolonnen eine wilde, atemlose Hoffnung auf: als ginge es jetzt geradewegs in ein Dasein der Freiheit und Gerechtigkeit hinein.
Doch schon nach wenigen hundert Metern stoppt der Zug. Er hält vor der Wohnung des Bürgermeisters. Ein paar Arbeiter rütteln an der Haustür. Es bleibt still; aber hinter den geschlossenen Fenstern sieht man einen Augenblick das bleiche Gesicht einer Frau. Das Rütteln verstärkt sich, und ein Stein fliegt gegen das Fenster. Ein zweiter folgt. Klirrend splittert das Glas in den Vorgarten.
Da erscheint der Bürgermeister auf dem Balkon der ersten Etage. Zurufe fliegen ihm entgegen. Er versucht, etwas zu beteuern, aber niemand hört auf ihn.»Los! Mitkommen!«schreit jemand.
Der Bürgermeister zuckt die Achseln und nickt. Wenige Minuten später marschiert er an der Spitze des Zuges.
Der nächste, der herausgeholt wird, ist der Leiter des Lebensmittelamtes. Dann kommt ein verstörter Kahlkopf an die Reihe, der Butterschiebungen gemacht haben soll. Einen Getreidehändler erwischen wir nicht mehr — der ist rechtzeitig getürmt, als er uns kommen hörte.
Der Zug marschiert zum Schloßhof und staut sich vor dem Eingang des Bezirkskommandos. Ein Soldat springt die Treppe empor und geht hinein. Wir warten. Alle Fenster sind hell.
Endlich öffnet sich die Tür wieder. Wir recken die Köpfe. Ein Mann mit einer Aktentasche tritt heraus. Er sucht Blätter hervor und beginnt mit gleichmäßiger Stimme eine Rede abzulesen. Wir lauschen angestrengt. Willy hält beide Hände an seine großen Ohren. Da er einen Kopf größer als alle anderen ist, versteht er die Sätze besser und wiederholt sie. Aber die Worte plätschern über uns hin. Sie klingen und verklingen, doch sie treffen uns nicht, sie reißen uns nicht mit, sie rütteln uns nicht auf, sie plätschern nur und plätschern.
Wir werden unruhig. Wir verstehen das nicht. Wir sind gewohnt zu handeln. Es ist doch Revolution! Da muß doch was geschehen! Aber der Mann da oben redet nur und redet. Er mahnt zur Ruhe und Besonnenheit. Dabei ist noch niemand unbesonnen gewesen. Endlich tritt er ab.»Wer war das?«frage ich enttäuscht.
Der Artillerist neben uns weiß Bescheid.»Der Vorsitzende vom Ar- beiter- und Soldatenrat. War früher, glaube ich, Zahnarzt.«»Aha!«brummt Willy und dreht unbehaglich seinen roten Schädel hin und her.»So ein Quatsch! Ich habe gedacht, es ginge gleich zum Bahnhof und dann direkt nach Berlin.«
Rufe aus der Menge werden laut und pflanzen sich fort. Der Bürgermeister soll reden. Er wird die Treppe hinaufgeschoben. Mit ruhiger Stimme erklärt er, es würde alles genau untersucht werden. Neben ihm stehen schlotternd die beiden Schieber. Sie schwitzen vor Angst. Dabei geschieht ihnen gar nichts. Sie werden wohl ange- schrien, aber jeder geniert sich, die Hand gegen sie zu erheben.
«Na«, sagt Willy,»wenigstens der Bürgermeister hat Courage.«
«Ach, der ist das gewöhnt«, meint der Artillerist,»den holen sie alle paar Tage mal raus. —«
Wir sehen ihn erstaunt an.»Passiert denn so was öfter?«fragt Albert.
Der andere nickt.»Es kommen ja immer noch neue Truppen zurück, die meinen, daß sie aufräumen müssen. Na, und dabei bleibt's dann. —«
«Mensch, das versteh' ich nicht«, sagt Albert.
«Ich auch nicht«, erklärt der Artillerist und gähnt herzhaft,»hab's mir auch anders vorgestellt. Na adjüs, ich trudele in meine Flohkiste. Das ist vernünftiger.«
Andere folgen. Der Platz leert sich zusehends. Ein zweiter Delegierter spricht jetzt. Auch er mahnt zur Ruhe. Die Führer würden für alles sorgen. Sie seien schon bei der Arbeit. Er zeigt auf die erleuchteten Fenster. Am besten wäre es, wir gingen nach Hause.
«Verflucht, und das ist alles?«sage ich ärgerlich.
Wir kommen uns beinahe lächerlich vor, weil wir mitgegangen sind. Was haben wir vorhin nur gewollt?» Scheiße«, sagt Willy enttäuscht. Wir zucken die Achseln und schlendern fort.
Eine Zeitlang bummeln wir noch herum, dann trennen wir uns. Ich bringe Albert nach Hause und gehe allein zurück. Aber es ist sonderbar: jetzt, wo meine Kameraden nicht mehr bei mir sind, beginnt alles um mich herum leise zu schwanken und unwirklich zu werden. Eben noch war es selbstverständlich und fest, jetzt aber löst es sich plötzlich und ist so bestürzend neu und ungewohnt, daß ich beinahe nicht mehr weiß, ob ich nicht alles nur träume. Bin ich denn da? Bin ich wirklich wieder da und zu Hause?
Da liegen die Straßen steinern und sicher, mit glatten, schimmernden Dächern, nirgendwo klaffen Löcher und Granatrisse, unversehrt ragen die Mauern in die blaue Nacht, dunkel schneiden die Silhouetten der Balkone und Giebel hinein, nichts ist angefressen von den Zähnen des Krieges, die Fensterscheiben sind alle heil, und hinter den hellen Wolken ihrer Gardinen lebt eine gedämpfte andere Welt als die heulende des Todes, in der ich bislang zu Hause war.
Vor einem Hause, in dem die untern Fenster erleuchtet sind, bleibe ich stehen. Musik klingt leise heraus. Die Vorhänge sind nur halb zugezogen. Man kann hineinsehen.
Eine Frau sitzt am Klavier und spielt. Sie ist allein. Nur das Licht einer Stehlampe fällt auf die weißen Notenblätter. Das übrige Zimmer verschwimmt in buntem Halbdämmer. Ein Sofa und einige Stühle mit Lehnen und Polstern führen in ihm ein friedliches Dasein. In einem Sessel liegt ein Hund und schläft. Ich starre wie verzaubert auf dieses Bild. Erst als die Frau aufsteht und mit weichen Schritten lautlos zum Tisch geht, trete ich rasch zurück. Mein Herz schlägt. Im wilden Licht der Leuchtraketen und unter den zerschossenen Ruinen der Frontdörfer habe ich fast vergessen, daß es dies alles noch gibt: diesen straßenweit in Räume gemauerten Frieden der Teppiche, der Wärme und der Frauen. Ich möchte die Haustür öffnen und in das Zimmer hineingehen, ich möchte mich in den Sessel kauern, die Hände in die Wärme halten und mich davon überströmen lassen, ich möchte sprechen und das Harte, Heftige, Vergangene unter den stillen Augen der Frau auftauen und hinter mir lassen, ich möchte es ausziehen wie einen schmutzigen Anzug. — Das Licht im Zimmer erlischt. Ich gehe weiter. Aber die Nacht ist auf einmal voll von dunklen Rufen und undeutlichen Stimmen, voll von Bildern und Vergangenem, voll von Fragen und Antworten.
Ich wandere weit hinaus. Auf der Anhöhe des Klosterberges bleibe ich stehen. Silbern liegt unten die Stadt. Der Mond spiegelt sich im Fluß. Die Türme schweben, und es ist unfaßbar still. Ich stehe eine Weile und gehe dann zurück, wieder den Straßen und Wohnungen zu.