Leise tappe ich zu Hause die Treppe hinauf. Meine Eltern schlafen schon. Ich höre ihren Atem — den leiseren meiner Mutter und den rauheren meines Vaters — und schäme mich, daß ich so spät wiedergekommen bin.
In meinem Zimmer mache ich Licht. In der Ecke steht das Bett, weiß bezogen, mit aufgeschlagener Decke. Ich setze mich darauf und hocke noch eine Weile so da. Dann werde ich müde. Mechanisch strecke ich mich aus und will die Decke über mich ziehen. Aber plötzlich setze ich mich wieder auf, denn ich habe ganz vergessen, mich auszuziehen. Draußen schliefen wir ja immer nur in unserm Zeug. Langsam streife ich die Uniform ab und stelle die Stiefel in die Ecke. Dabei sehe ich, daß am Fußende des Bettes ein Nachthemd hängt. Das kenne ich kaum noch. Ich ziehe es an. Und mit einmal, während ich es nackt und fröstelnd überstreife, überwältigt mich ein Gefühl, ich betaste die Decken und wühle mich in die Kissen, ich drücke sie an mich und presse mich hinein, in die Kissen, in den Schlaf und wieder in das Leben, und empfinde nur das eine und nichts anderes: ich bin da, — ja, ich bin da!
III
Albert und ich sitzen im Cafe Meyer am Fenster. Vor uns auf dem runden Marmortisch stehen zwei Tassen mit kalt gewordenem Kaffee. Wir sind schon drei Stunden hier, doch wir haben uns noch nicht entschließen können, die bittere Brühe zu trinken. Dabei sind wir von draußen allerhand gewohnt; aber dieses hier kann nichts anderes als aufgekochte Steinkohle sein.
Nur drei Tische sind besetzt. An einem verhandeln Schieber über einen Waggon Lebensmittel; am anderen sitzt ein Ehepaar, das Zeitungen liest; am dritten rekeln wir unsere hingeflegelten Hintern auf den roten Plüschsofas.
Die Gardinen sind schmutzig, die Kellnerin gähnt, die Luft ist stik- kig, und eigentlich ist hier wohl nicht viel los; aber für uns ist trotzdem eine ganze Menge los. Wir hocken gemütlich da, wir haben endlos Zeit, die Musik spielt, und wir können aus dem Fenster sehen. Das haben wir lange nicht mehr gehabt.
Wir bleiben deshalb auch so lange, bis die drei Musiker ihre Sachen zusammengepackt haben und die Kellnerin ärgerlich immer engere Kreise um den Tisch zieht. Dann zahlen wir und streichen durch den Abend. Es ist großartig, langsam von einem Schaufenster zum anderen zu gehen, sich um nichts kümmern zu müssen und ein freier Mann zu sein.
An der Stubenstraße machen wir halt.»Könnten mal zu Becker reingehen«, sage ich.
«Tatsächlich«, stimmt Albert zu,»das könnten wir. Der wird sich ja wundern.«
In Beckers Geschäft haben wir einen Teil unserer Schuljahre zugebracht. Dort gab es alles zu kaufen, was man sich denken konnte: Hefte, Zeichensachen, Schmetterlingsnetze, Aquarien, Briefmarkensammlungen, antiquarische Bücher und Broschüren mit den Auflösungen der algebraischen Aufgaben. Bei Becker saßen wir stundenlang, dort haben wir heimlich Zigaretten geraucht und unsere ersten verstohlenen Zusammenkünfte mit den Mädchen der Bürgerschule gehabt. Er war uns großer Vertrauter. Wir treten ein. Rasch lassen ein paar Schüler, die in den Ecken stehen, ihre Zigaretten in der hohlen Hand verschwinden. Wir lächeln und recken uns ein bißchen. Ein Mädchen kommt und fragt nach unsern Wünschen.
«Wir möchten Herrn Becker sprechen«, sage ich.
Das Mädchen zögert.»Kann ich es denn nicht auch machen?«
«Nein, Fräulein«, erwidere ich,»das können Sie nicht. Sagen Sie mal Herrn Becker Bescheid.«
Sie geht. Wir sehen uns an und stecken unternehmungslustig die Hände in die Taschen. Das wird ja ein Hallo geben!
Das wohlbekannte Klingeln der Kontortür ertönt. Becker kommt, klein, grau und verhutzelt, wie immer. Er blinzelt einen Moment. Dann erkennt er uns.»Sieh da, Birkholz und Troßke«, sagt er,»auch wieder da?«
«Ja«, sagen wir rasch und denken, daß es jetzt losgeht.
«Ist ja schön! Was soll's denn sein?«fragt er.»Zigaretten?«Wir sind verdutzt. Kaufen wollten wir eigentlich gar nichts, daran hatten wir nicht gedacht.»Ja, zehn Zigaretten«, sage ich schließlich.
Er gibt sie uns.»Na, denn auf ein baldiges!«Damit schlurft er zurück. Wir stehen noch einen Augenblick.»Noch was vergessen?«ruft er von der kleinen Treppe.
«Nein, nein«, antworten wir und gehen.
«Na, Albert«, sage ich draußen,»der scheint zu meinen, wir wären bloß mal spazieren gewesen, was?«
Er macht eine verdrossene Bewegung.»Zivilistenkamel…«
Wir bummeln weiter. Spät am Abend stößt Willy zu uns, und wir gehen zusammen zur Kaserne.
Unterwegs springt Willy plötzlich zur Seite. Ich erschrecke ebenfalls. Das unverkennbare Jaulen einer Granate kreischt heran, aber dann sehen wir uns verblüfft um und lachen. Es war nur das Quietschen der elektrischen Straßenbahn.
Jupp und Valentin hocken etwas verlassen in einer leeren, großen Korporalschaftsbude. Tjaden ist überhaupt noch nicht zurückgekommen. Er ist immer noch im Puff. Die beiden anderen begrüßen uns erfreut, denn nun können sie einen Skat ansetzen. Jupp hat es in der kurzen Zeit geschafft, Soldatenrat zu werden. Er hat sich einfach selbst dazu gemacht und bleibt es jetzt, weil ein solcher Wirrwarr in der Kaserne herrscht, daß keiner Bescheid weiß. Damit ist er fürs erste versorgt, denn seine Zivilstellung ist futsch. Sein Rechtsanwalt aus Köln hat ihm geschrieben, die weibliche Hilfskraft sei vorzüglich eingearbeitet und billiger, Jupp aber wäre sicher den Büroanforderungen im Feld etwas entwachsen. Er bedauere herzlich, die Zeiten seien hart. Beste Wünsche für die Zukunft.
«Schöner Mist«, sagt Jupp melancholisch,»all die Jahre hat man nur den einen Wunsch gehabt: weg von den Preußen, und jetzt ist man froh, daß man bleiben kann. Na, so kaputt oder so kaputt — ich reize achtzehn.«
Willy hat ein Bombenblatt in der Faust.»Zwanzig«, antworte ich für ihn,»und du, Valentin?«
Er zuckt die Achseln.»Vierundzwanzig.«
Als Jupp bei vierzig paßt, erscheint Karl Bröger.»Wollte mal nach- sehen, was ihr macht«, sagt er.
«Da hast du uns hier gesucht, was?«schmunzelt Willy und setzt sich behaglich und breit hin.»Ja, die Kaserne ist doch nun mal die wahre Heimat der Soldaten. Einundvierzig!«
«Sechsundvierzig«, schnaubt Valentin herausfordernd.»Achtundvierzig«, donnert Willy zurück.
Verflucht, das wird ein hohes Spiel. Wir rücken näher. Willy lehnt sich genußreich an die Spindwand und zeigt uns einen haushohen Grand. Aber Valentin grinst gefährlich; er hat ein noch mächtigeres Null aus der Hand in der Flosse.
Wunderbar gemütlich ist es in der Bude hier. Auf dem Tisch steht ein Kerzenstummel und flackert. Matt schimmern die Bettstellen aus den Schatten. Wir fressen große Stücke Käse, die Jupp besorgt hat. Er teilt jedem seine Portion mit dem Seitengewehr zu.
«Fünfzig!«tobt Valentin.
Da fliegt die Tür auf und Tjaden stürmt herein.»Se… Se…«stottert er und kriegt vor Aufregung einen mörderischen Schluckauf. Wir führen ihn mit hochgehobenen Armen in der Stube herum.»Haben dir die Huren dein Geld geklaut?«fragt Willy teilnehmend.
Er schüttelt den Kopf.»Se… Se…«
«Stillgestanden!«kommandiert Willy.
Tjaden fährt zusammen. Der Schluckauf ist weg.
«Seelig — ich habe Seelig gefunden«, jubelt er.
«Mensch — «, Willy heult auf,»wenn du jetzt lügst, werfe ich dich aus dem Fenster!«
Seelig war unser Kompaniefeldwebel, ein Biest ersten Ranges. Zwei Monate vor der Revolution wurde er leider versetzt, so daß wir ihn bislang nicht fassen konnten. Tjaden erzählt, daß er in der Kneipe» König Wilhelm «Gastwirt sei und hervorragendes Bier habe.
«Hin!«rufe ich, und wir drängen hinaus.
«Aber nicht ohne Ferdinand«, sagt Willy.»Der hat mit Seelig noch wegen Schröder abzurechnen.«