«Schade«, sagt Adolf Bethke,»das wäre der erste vernünftige Schuß in diesem Lausekrieg gewesen.«
Kosole schmeißt enttäuscht das Gewehr weg.»Wenn man doch ein paar Schrotpatronen hätte!«Er versinkt in Schwermut und Phantasien, was dann alles getan werden könnte. Unwillkürlich kaut er.»Jawohl«, sagt Jupp, der ihn beobachtet hat,»mit Apfelmus und Bratkartoffeln, was?«
Kosole sieht ihn giftig an.»Halt die Schnauze, Schreiberseele!«»Du hättest Flieger werden sollen«, grinst Jupp,»dann könntest du sie jetzt mit einem Netz fangen.«
«Arschloch!«antwortet Kosole abschließend und haut sich wieder zum Schlafen hin. Es ist auch das beste. Der Regen wird stärker. Wir setzen uns mit den Rücken gegeneinander und hängen uns die Zeltbahnen über. Wie dunkle Haufen Erde hocken wir in unserem Grabenstück. Erde, Uniform und etwas Leben darunter.
Ein scharfes Flüstern weckt mich.»Vorwärts — vorwärts!«
«Was ist denn los?«frage ich schlaftrunken.
«Wir sollen nach vorn«, knurrt Kosole und rafft seine Sachen zusammen.
«Da kommen wir ja gerade her«, sage ich verwundert.
«So ein Quatsch«, höre ich Weßling schimpfen,»der Krieg ist doch
aus.«
«Los, vorwärts!«Es ist Heel selbst, unser Kompanieführer, der uns antreibt. Ungeduldig läuft er durch den Graben. Ludwig Breyer ist schon auf den Beinen.»Es hilft nichts, wir müssen raus«, sagt er ergeben und nimmt ein paar Handgranaten.
Adolf Bethke sieht ihn an.»Du solltest hierbleiben, Ludwig. Mit deiner Ruhr kannst du nicht nach vorn.«
Breyer schüttelt den Kopf.
Die Koppel schnurren, die Gewehre klappern und der fahle Geruch des Todes steigt plötzlich wieder aus der Erde empor. Wir hatten gehofft, ihm schon für immer entronnen zu sein, denn wie eine Rakete war der Gedanke an Frieden vor uns hochgegangen, und wenn wir es auch noch nicht geglaubt und begriffen hatten, die Hoffnung allein war doch bereits genug gewesen, um uns in den wenigen Minuten, die das Gerücht zum Erzähltwerden brauchte, mehr zu verändern, als vorher in zwanzig Monaten. Ein Jahr Krieg hat sich bisher auf das andere gelegt, ein Jahr Hoffnungslosigkeit kam zum anderen, und wenn man die Zeit nachrechnete, war die Verwunderung fast gleich groß darüber, daß es schon so lange und daß es erst so lange her war. Jetzt aber, wo bekanntgeworden ist, daß der Friede jeden Tag da sein kann, hat jede Stunde tausendfaches Gewicht, und jede Minute im Feuer erscheint uns fast schwerer und länger als die ganze Zeit vorher.
Der Wind miaut um die Reste der Brustwehren, und die Wolken ziehen eilig über den Mond. Licht und Schatten wechseln immerfort. Wir gehen dicht hintereinander, eine Gruppe von Schatten, ein armseliger zweiter Zug, zusammengeschossen bis auf ein paar Mann — die ganze Kompanie hat ja kaum noch die Stärke eines normalen Zuges —, aber dieser Rest ist gesiebt. Wir haben sogar noch drei alte Leute von vierzehn hier: Bethke, Weßling und Kosole, die alles kennen und manchmal von den ersten Monaten des Bewegungskrieges erzählen, als wäre das zur Zeit der alten Deutschen gewesen.
Jeder sucht sich in der Stellung seine Ecke, sein Loch. Es ist wenig los. Leuchtkugeln, Maschinengewehre, Ratten. Willy schmeißt eine mit gut gezieltem Tritt hoch und halbiert sie in der Luft mit einem Spatenschlag.
Vereinzelte Schüsse fallen. Von rechts klingt entfernt das Geräusch explodierender Handgranaten.
I loffentlich bleibt's hier ruhig«, sagt Weßling.
«Jetzt noch eins vor den Bregen kriegen—. «Willy schüttelt den Kopf.»Wer Pech hat, bricht sich den Finger, wenn er in der Nase bohrt«, brummt Valentin.
Ludwig liegt auf einer Zeltbahn. Er hätte wirklich hinten bleiben können. Max Weil gibt ihm ein paar Tabletten zum Einnehmen. Valentin redet auf ihn ein, Schnaps zu trinken. Ledderhose versucht, eine saftige Schweinerei zu erzählen. Keiner hört hin. Wir liegen herum. Die Zeit geht weiter.
Mit einem Male zucke ich zusammen und hebe den Kopf. Ich sehe, daß auch Bethke bereits hochgefahren ist. Selbst Tjaden wird lebendig. Der jahrelange Instinkt meldet irgend etwas, keiner weiß noch was, aber bestimmt ist etwas Besonderes los. Vorsichtig recken wir die Köpfe und lauschen, die Augen zu engen Spalten verengt, um die Dämmerung zu durchdringen. Alle sind wach, in allen sind alle Sinne bis aufs äußerste angespannt, alle Muskeln bereit, das noch Unbekannte, Kommende, das nur Gefahr bedeuten kann, zu empfangen. Leise schurren die Handgranaten, mit denen Willy, der beste Werfer, sich vorschiebt. Wir liegen wie Katzen angeschmiegt am Boden. Neben mir entdecke ich Ludwig Breyer. In seinen gespannten Zügen ist nichts mehr von Krankheit. Er hat dasselbe kalte, tödliche Gesicht wie alle hier, das Gesicht des Schützengrabens. Eine rasende Spannung hat es gefroren, so außergewöhnlich ist der Eindruck, den das Unterbewußtsein uns vermittelt hat, lange bevor unsere Sinne ihn erkennen können.
Der Nebel schwankt und weht. Und plötzlich fühle ich, was uns alle zu höchstem Alarm gebannt hat. Es ist nur still geworden. Ganz still. Kein M-G. mehr, kein Abschuß, kein Einschlag; kein Granatenpfeifen, nichts, gar nichts mehr, kein Schuß, kein Schrei. Es ist einfach still, vollkommen still.
Wir sehen uns an, wir können es nicht begreifen. Es ist das erste Mal so still, seit wir im Kriege sind. Wir wittern unruhig, um zu erfahren, was es zu bedeuten hat. Schleicht Gas heran? Aber der Wind steht schlecht, er würde es abtreiben. Kommt ein Angriff? Aber dann wäre er durch die Stille ja vorzeitig verraten. Was ist bloß los? Die Granate in meiner Hand ist naß, so schwitze ich vor Erregung. Es ist, als wollten die Nerven reißen. Fünf Minuten. Zehn Minuten.»Jetzt schon eine Viertelstunde«, ruft Valentin Laher. Seine Stimme schallt hohl im Nebel wie aus einem Grabe. Und immer noch geschieht nichts, kein Angriff, keine plötzlich verdunkelnden, springenden Schatten.. Die Hände lockern sich und schließen sich fester. Das ist nicht mehr zum Aushalten! Wir sind den Lärm der Front so gewohnt, daß wir das Gefühl haben, jetzt, wo er mit einmal nicht mehr auf uns lastet, zerplatzen zu müssen, hochzufliegen wie Ballons.»Mensch, paß auf, es ist Frieden«, sagt Willy plötzlich, und das schlägt ein wie eine Bombe.
Die Gesichter lockern sich, die Bewegungen werden ziellos und unsicher. Frieden? Wir sehen uns ungläubig an. Frieden? Ich lasse meine Handgranaten fallen. Frieden? Ludwig legt sich langsam wieder auf seine Zeltbahn. Frieden? Bethke hat einen Ausdruck in den Augen, als würde sein Gesicht gleich zerbrechen. Frieden? Weßling steht unbeweglich wie ein Baum, und als er das Gesicht abwendet und sich zu uns dreht, sieht er aus, als wolle er gleich weitergehen bis nach Hause.
Auf einmal, wir haben es kaum bemerkt im Wirbel unserer Erregung, ist das Schweigen zu Ende, dumpf dröhnen wieder die Abschüsse, und wie Spechtgehacke knarrt auch bereits von weither ein M.-G. Wir werden ruhig und sind fast froh, die vertrauten Geräusche des Todes wieder zu hören.
Den Tag über haben wir Ruhe. Nachts sollen wir ein Stück zurück, wie schon oft bisher. Aber die von drüben folgen nicht einfach, sondern sie greifen an. Ehe wir uns versehen, kommt schweres Feuer herüber. Hinter uns tost es in roten Fontänen durch die Dämmerung. Einstweilen ist es bei uns noch ruhig. Willy und Tjaden finden zufällig eine Büchse Fleisch und fressen sie sofort auf. Die ändern liegen da und warten. Die vielen Monate haben sie ausgegliiht, sie sind fast gleichgültig, solange sie sich nicht wehren können.
Der Kompanieführer kriecht in unsern Trichter.»Habt ihr alles?«fragt er durch den Lärm.»Zu wenig Munition«, schreit Bethke. Heel zuckt die Achseln und schiebt Bethke eine Zigarette über die Schulter zu. Der nickt, ohne umzusehen.»Muß so gehen«, ruft Heel und springt zum nächsten Trichter. Er weiß, daß es gehen wird. Jeder dieser alten Soldaten könnte genau so gut Kompanieführer sein wie er selber.