An der Westseite des Domes, in einer winkligen Gasse, liegt das zweistöckige Seminar. Schräg gegenüber das Gymnasium. Dahinter der Fluß und der Wall mit den Linden. Ehe wir Soldaten wurden, umfaßten diese Gebäude unsere Welt. Dann wurden es die Schützengräben. Jetzt sind wir wieder hier. Aber dies ist nicht mehr unsere Welt. Die Gräben waren stärker.
Vor dem Gymnasium treffen wir unseren Spielkameraden Georg Rahe. Er war Leutnant und Kompanieführer, aber im Urlaub hat er gesoffen und herumgesessen und nicht an sein Abitur gedacht. Deshalb muß er jetzt wieder in die Obersekunda, in der er schon zweimal sitzengeblieben ist.
«Ist das wahr, Georg?«frage ich,»daß du draußen so erstklassig geworden bist in Latein?«
Er lacht und storcht mit seinen langen Beinen zum Gymnasium hinüber.
«Paß auf, daß du in Betragen keine Vier kriegst«, ruft er mir nach.
Im letzten halben Jahr war er Flieger. Er hat vier Engländer abgeschossen, aber ich glaube nicht, daß er den Pythagoreischen Lehrsatz noch beweisen kann.
Wir gehen weiter zum Seminar. Die Gasse wimmelt von Uniformen. Gesichter tauchen auf, die man fast vergessen, Namen, die man Jahre nicht mehr gehört hat. Hans Walldorf humpelt heran, den wir November 17 mit zerschmettertem Knie zurückschleppten. Der Oberschenkel ist ihm abgenommen worden; er trägt jetzt ein schweres Kunstbein mit Scharnieren und stampft beim Gehen mächtig auf. Kurt Leipold erscheint und stellt sich lachend selbst vor: Götz von Berlichingen mit der eisernen Faust. Er hat einen künstlichen rechten Arm. Dann kommt jemand aus der Torecke und sagt gurgelnd:»Mich kennt ihr wohl nicht wieder, was?«
Ich sehe das Gesicht an, soweit es noch eins ist. Über die Stirn läuft eine breite, rote Narbe. Sie reicht bis ins linke Auge. Das Fleisch ist dort übergewachsen, so daß das Auge klein und tief liegt. Aber es ist noch da. Rechts ist das Auge starr, aus Glas. Die Nase ist fort, ein schwarzer Lappen bedeckt die Stelle. Die Narbe, die darunter hervorläuft, spaltet den Mund zweimal. Er ist wulstig und schief zusammengewachsen, daher die undeutliche Sprache. Die Zähne sind künstlich. Eine Klammer ist daran sichtbar. Unschlüssig schaue ich hin. Die gurgelnde Stimme sagt:»Paul Rademacher.«
Jetzt erkenne ich ihn. Das ist ja sein grauer Anzug, mit den Streifen.»Tag, Paul, was machst du?«
«Siehst ja«, er versucht, die Lippen zu verziehen,»zwei Spatenschläge. Das ist auch noch mitgegangen. «Er hebt die Hand, an der drei Finger fehlen. Traurig blinzelt sein eines Auge. Das andere sieht starr und unbeteiligt geradeaus.»Wenn ich nur wüßte, ob ich noch Schulmeister werden kann. Das Sprechen ist zu schlecht. Kannst du mich denn verstehen?«
«Gut«, antworte ich.»Das gibt sich auch noch. Man kann das sicher weiter operieren.«
Er hebt die Schultern und schweigt. Er scheint nicht viel Hoffnung zu haben. Wenn es ginge, hätten sie es auch schon gemacht. Willy stößt zu uns, um uns die letzten Ereignisse zu erzählen. Wir hören, daß Borkmann doch noch an seinem Lungenschuß gestorben ist. Er hat galoppierende Schwindsucht dazugekriegt. Henze hat sich erschossen, als er erfuhr, daß seine Rückenmarksverletzung nur zu dauerndem Rollstuhl führen könnte. Das ist zu verstehen: Er war unser bester Fußballspieler. Meyer ist im September gefallen, Lich- tenfeld im Juni. Lichtenfeld war nur zwei Tage draußen.
Plötzlich stutzen wir. Eine kleine mickrige Gestalt steht vor uns.»Was, Westerholt?«fragt Willy ungläubig.
«Immer noch, du Fliegenpilz«, antwortet der.
Willy ist verblüfft.»Ich denke, du bist tot.«
«Noch nicht«, gibt Westerholt gemütlich zurück.
«Aber ich habe es doch in der Zeitung gelesen.«
«War eben eine Fehlanzeige«, schmunzelt der Kleine.
«Man kann sich auch auf nichts mehr verlassen«, sagt Willy kopfschüttelnd.»Ich dachte, die Würmer hätten dich längst gefressen.«»Nach dir, Willy«, antwortet Westerholt selbstgefällig,»du bist früher dran. Rothaarige leben nie lange.«
Wir gehen hinein. Der Hof, auf dem wir um zehn Uhr unsere Butterbrote aßen, die Klassenzimmer mit den Tafeln und Bänken, die Gänge mit den Reihen der Mützenhaken — sie sind noch genau wie früher, aber uns erscheinen sie wie aus einer anderen Welt. Nur den Geruch der halbdunklen Räume kennen wir wieder; er ist nicht so derb, aber ähnlich dem der Kasernen.
Groß, mit hundert Pfeifen, schimmert in der Aula die Orgel. Rechts davon steht die Gruppe der Lehrer. Auf dem Pult des Direktors sind zwei Topfgewächse mit lederartigen Blättern auf gestellt. Davor hängt ein Lorbeerkranz mit Schleife. Der Direktor ist im Gehrock. Es gibt also eine Begrüßungsfeier. Wir drängen uns zu einem Haufen zusammen. Keiner hat Lust, in der ersten Reihe zu stehen. Nur Willy nimmt unbefangen dort Aufstellung. Sein Schädel leuchtet im Halbdunkel des Raumes wie die rote Lampe eines Puffs.
Ich betrachte die Gruppe der Lehrer. Früher bedeuteten sie für uns mehr als andere Menschen; nicht allein weil sie unsere Vorgesetzten waren, sondern weil wir im Grunde doch an sie glaubten, auch wenn wir uns über sie lustig machten. Heute sind sie für uns nur noch eine Anzahl älterer Männer, die wir freundlich verachten.
Da stehen sie nun und wollen uns wieder belehren. Man sieht ihnen an, daß sie bereit sind, etwas von ihrer Würde zu opfern. Aber was können sie uns schon lehren. Wir kennen das Leben jetzt besser als sie, wir haben ein anderes Wissen erworben, hart, blutig, grausam und unerbittlich. Heute könnten wir sie lehren, aber wer will das! — Wenn jetzt ein überraschender Sturmangriff auf die Aula erfolgte, würden sie ängstlich und ratlos wie Karnickel umherhopsen, während von uns keiner den Kopf verlöre. Ruhig und entschlossen würden wir sofort das Zweckmäßigste tun, nämlich sie einsperren, damit sie uns nicht stören könnten, und die Verteidigung beginnen.
Der Direktor räuspert sich zu einer Ansprache. Die Worte springen rund und glatt aus seinem Munde, er ist ein vorzüglicher Redner, das muß man zugeben. Er spricht vom heldenhaften Ringen der Truppen, von Kampf, Sieg und Tapferkeit. Aber trotz aller schönen Worte empfinde ich einen Stachel dabei, vielleicht gerade wegen der schönen Worte. So glatt und rund war das nicht. Ich sehe Ludwig an, der sieht mich an; Albert, Walldorf, Westerholt, Reinersmann, allen paßt es nicht.
Der Direktor gerät an sich selbst in Schwung. Er feiert jetzt nicht nur das Heldentum draußen, sondern auch das stillere daheim.»Auch wir in der Heimat haben unsere volle Schuldigkeit getan, wir haben uns eingeschränkt und gehungert für unsere Soldaten, wir haben gebangt und gezittert, schwer war es, und oft mag das Durchhalten fast schwerer gewesen sein für uns, als für unsere braven Feldgrauen draußen. —«
«Hoppla«, sagt Westerholt. Gemurmel entsteht. Der Alte wirft einen schiefen Blick herüber und fährt fort:»Doch das können wir wohl nicht gegeneinanderstellen. Sie haben dem Tode furchtlos ins eherne Antlitz gesehen und Ihre große Pflicht getan, und wenn auch der Endsieg unseren Waffen nicht beschieden war, so wollen wir jetzt um so mehr in heißer Liebe zu unserm schwergeprüften Vaterlande zusammenstehen, wir wollen wiederaufbauen trotz aller feindlichen Mächte, im Sinne unseres Altmeisters Goethe, der so knorrig aus den Jahrhunderten in unsere verworrene Zeit herübermahnt: Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten!«
Die Stimme des Alten sinkt um eine Terz. Sie trägt jetzt einen Flor und ist in Salböl gebadet. Ein Ruck geht durch die schwarze Schar der Lehrer. Ihre Gesichter zeigen Sammlung und Ernst.»Besonders gedenken aber wollen wir der gefallenen Zöglinge unserer Anstalt, die freudig hinausgeeilt sind, um die Heimat zu schützen, und geblieben sind auf dem Felde der Ehre. Einundzwanzig Kameraden sind nicht mehr unter uns — einundzwanzig Kämpfer haben den ruhmreichen Tod der Waffen gefunden — einundzwanzig Helden ruhen in fremder Erde aus vom Klirren der Schlacht und schlummern den ewigen Schlaf unterm grünen Rasen…«