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Aber ich schlafe nicht ein. Es fehlt etwas, das vorher da war — das gleichmäßige, leise, metallische Klirren. Langsam fühle ich mich zum Denken zurück und öffne die Augen. Da steht meine Mutter mit blassem, entsetztem Gesicht und starrt mich an.»Was hast du denn?«rufe ich erschreckt und springe auf.»Bist du krank?«

Sie wehrt ab.»Nein, nein — aber daß du so etwas sagen kannst. — «Ich denke nach. Was habe ich denn nur gesagt? Ach so, das mit Onkel Karl. — »Na, Mutter, sei doch nicht so empfindlich«, lache ich erleichtert,»Onkel Karl ist wirklich ein Schieber, das weißt du doch auch.«

«Das meine ich gar nicht«, antwortet sie leise,»aber daß du solche Ausdrücke gebrauchst. —«

Mit einmal fällt mir ein, was ich da im Halbschlaf gesagt habe. Ich schäme mich, weil mir das gerade bei meiner Mutter passieren mußte.»Es ist mir so herausgerutscht«, erkläre ich entschuldigend,»man muß sich wirklich erst gewöhnen, daß man nicht mehr draußen ist. Da herrscht ein rauher Ton, Mutter. Rauh, aber herzlich.«

Ich glätte mir die Haare und knöpfe den Waffenrock zu. Dann suche ich nach Zigaretten. Dabei sehe ich, daß meine Mutter mich immer noch anblickt und daß ihre Hände zittern.

Überrascht halte ich inne.»Aber Mutter«, sage ich erstaunt und lege den Arm um ihre Schulter,»so schlimm ist das doch wahrhaftig nicht. Soldaten sind nun mal so.«

«Ja, ja, das weiß ich«, erwidert sie,»aber du — du auch. —«

Ich lache. Natürlich, ich auch, will ich rufen, aber ich schweige plötzlich und lasse sie los, so trifft mich etwas. Ich setze mich auf das Sofa, um mich zurechtzufinden.

Vor mir steht die alte Frau mit ihrem bangen, versorgten Gesicht. Sie hat die Hände gefaltet, müde zerarbeitete Hände mit weicher runzeliger Haut, auf der bläulich die Adern hervorstehen; Hände, die für mich so geworden sind. Früher habe ich das nie gesehen, früher habe ich überhaupt vieles nicht gesehen, denn ich war noch zu jung. Aber jetzt begreife ich, weshalb ich für diese schmale verhärmte Frau anders bin als alle Soldaten der Welt: ich bin ihr Kind.

Ich bin es immer für sie geblieben, auch als Soldat. Sie hat im Kriege nur einen Knäuel gefährlicher Bestien gesehen, die ihrem bedrohten Kinde nach dem Leben trachteten. Aber ihr ist nie der Gedanke gekommen, daß dieses bedrohte Kind eine ebenso gefährliche Bestie für die Kinder anderer Mütter war.

Ich senke den Blick von ihren Händen auf meine eigenen. Damit habe ich im Mai 1917 einen Franzosen erstochen. Das Blut lief mir widerlich heiß über die Finger, während ich in besinnungsloser Angst und Wut immer wieder zustach. Nachher mußte ich mich erbrechen, und die ganze Nacht durch habe ich geweint. Erst morgens konnte Adolf Bethke mich trösten; ich war damals gerade achtzehn Jahre alt, und es war der erste Angriff, den ich mitmachte.

Langsam drehe ich die Hände nach außen. Bei dem großen Durchbruchsversuch Anfang Juli habe ich damit drei Leute erschossen. Sie blieben den Tag über im Drahtverhau hängen. Ihre schlaffen Arme baumelten im Luftdruck der Granateinschläge, und oft sah es aus, als drohten sie, aber manchmal auch, als flehten sie um Hilfe. Später habe ich einmal auf zwanzig Meter eine Handgranate geworfen, die einem englischen Hauptmann die Beine wegfetzte. Er schrie furchtbar, den Kopf hatte er mit aufgerissenem Munde hochgcreckt, die Arme aufgestemmt, den Oberkörper gebäumt wie ein Seehund; aber dann verblutete er rasch. Und jetzt sitze ich hier vor meiner Mutter, und sie weint beinahe, weil sie nicht fassen kann, daß ich so roh geworden bin, einen unanständigen Ausdruck zu gebrauchen.

«Ernst«, sagt sie leise,»ich wollte es dir schon immer einmal sagen: du hast dich sehr verändert. Du bist so unruhig geworden.«

Ja, denke ich bitter, ich habe mich verändert. Was weißt du denn noch von mir, Mutter? Es ist nur eine Erinnerung, nicht mehr als eine Erinnerung an einen schwärmerischen, stillen Jungen von früher. Nie, nie darfst du etwas erfahren von den letzten Jahren, nie darfst du ahnen, wie es wirklich gewesen ist und was aus mir geworden ist. Der hundertste Teil davon würde dir das Herz brechen, dir, die du schon zitterst und beschämt wirst durch ein einziges Wort, weil es dir bereits deine Vorstellung von mir erschüttert.»Es wird alles schon mal besser werden«, sage ich ziemlich hilflos, und ich versuche, mich selbst damit zu beruhigen.

Sie setzt sich zu mir und streicht mir über die Hände. Ich ziehe sie weg. Sie sieht mich bekümmert an.»Manchmal bist du mir ganz fremd, Ernst, dann hast du ein Gesicht, das ich gar nicht an dir kenne.«

«Ich muß mich erst gewöhnen«, sage ich,»ich fühle mich noch immer so, als wäre ich hier nur auf Besuch. —«

Die Dämmerung fällt ins Zimmer. Vom Korridor kommt mein Hund herein und legt sich vor mir auf den Boden. Seine Augen schimmern, während er zu mir aufblickt. Er ist auch noch unruhig und hat sich noch nicht gewöhnt.

Meine Mutter lehnt sich zurück.»Daß du nur wiedergekommen bist, Ernst…«

«Ja, das ist die Hauptsache«, sage ich und stehe auf.

Sie bleibt in ihrer Ecke sitzen, eine kleine Gestalt in der Dämmerung, und ich empfinde in einer sonderbaren Weichheit, wie plötzlich die Rollen vertauscht sind. Jetzt ist sie das Kind geworden.

Ich ’iebe sie, ach, wann hätte ich sie mehr geliebt als jetzt, wo ich weiß: nie kann ich zu ihr kommen und bei ihr sein und ihr alles sagen und vielleicht ruhig werden. Habe ich sie nicht verloren? Mit einmal fühle ich, wie fremd und allein ich eigentlich bin.

Sie hat die Augen geschlossen.»Ich ziehe mich jetzt an und gehe noch etwas aus«, flüstere ich, um sie nicht zu stören. Sie nickt.»Ja, mein Junge«, sagt sie — und nach einer Weile leise —»mein guter Junge.«

Es trifft mich wie ein Stich. Behutsam ziehe ich die Tür zu.

III

Die Wiesen sind naß, und von den Wegen rinnt glucksend das Wasser. Ich trage ein kleines Einmachglas in der Manteltasche und gehe den Pappelgraben entlang. Hier habe ich als Junge Fische und Schmetterlinge gefangen und unter den Bäumen gelegen und geträumt.

Im Frühjahr hing der Graben voll Froschlaich und Algen. Helle, grüne Stauden von Wasserpest schwankten in den kleinen, klaren Wellen, langbeinige Schlittschuhläufer zickzackten zwischen den Stengeln der Schilfrohre, und Schwärme von Stichlingen warfen in der Sonne ihre eiligen, schmalen Schatten auf den goldgefleckten Sand.

Es ist kalt und feucht. In langer Reihe stehen die Pappeln neben dem Graben. Ihre Äste sind kahl, aber ein leichter, blauer Hauch hängt in ihnen. Eines Tages werden sie wieder grünen und rauschen, und die Sonne wird wieder warm und selig über diesem Stück Erde liegen, das so viele Erinnerungen meiner Jugend umfaßt.

Ich stampfe auf die Uferböschung. Ein paar Fische huschen darunter hervor. Da kann ich mich nicht mehr bezähmen. Dort, wo der Graben schmäler wird, so daß ich mit gespreizten Beinen darüber stehen kann, lauere ich, bis ich mit der hohlen Hand zwei Stichlinge erwische. Ich schöpfe sie in mein Glas und betrachte sie.

Sie schießen hin und her, zierlich und vollkommen, mit ihren drei Stacheln auf dem Rücken, dem schlanken, braunen Körper und den schwirrenden Brustflossen. Das Wasser ist klar wie Kristall. Die Reflexe des Glases spiegeln sich darin. Und auf einmal setzt mir der Atem aus, so stark empfinde ich, wie schön das ist, dieses Wasser im Glase mit den Lichtern und Reflexen. Behutsam nehme ich es in die Hand und wandere weiter, ich halte es vorsichtig und sehe manchmal hinein, klopfenden Herzens, als hätte ich meine Jugend darin gefangen und trüge sie nun mit mir nach Hause. Ich hocke mich an den Rand der Tümpel, auf denen dicke Schichten Wasserlinsen schwimmen, und sehe die blaumarmorierten Molche wie kleine Flatterminen hochpendeln, um Luft zu holen. Köchcrfliegenlarven kriechen langsam durch den Schlamm, ein Gelbrandkäfer rudert träge über den Grund, unter einer modernden Wurzel hervor blicken mich die erstaunten Augen eines unbeweglichen Teichfrosches an. Ich sehe alles, und es ist mehr darin, als man sehen kann — es sind noch Erinnerung, Sehnsucht und das Glück der Vergangenheit darin. Vorsichtig fasse ich mein Glas und gehe weiter, suchend, hoffend —.