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IV

Die Verfügungen für den Schulbesuch der Kriegsteilnehmer sind da. Unsere Vertreter haben erreicht, was wir wollten: Abgekürzte Schulzeit, Sonderkurse für die Soldaten und Erleichterung des Examens.

Es war nicht leicht, das durchzusetzen, obschon doch Revolution ist

— denn dieser ganze Umsturz ist nur ein bißchen Windgekräusel an der Oberfläche. Er greift nicht durch. Was nützt es schon, wenn ein paar Spitzenposten anders besetzt werden — jeder Soldat weiß, daß ein Kompanieführer die besten Absichten haben kann — wenn die Unteroffiziere nicht wollen, ist er trotzdem ohnmächtig. Ebenso muß der fortschrittlichste Minister immer scheitern, wenn er einen reaktionären Block von Geheimräten gegen sich hat. Und die Geheimräte sind in Deutschland auf ihren Posten geblieben. Diese Büronapoleons sind unverwüstlich.

Die erste Unterrichtsstunde. Wir hocken in den Bänken. Fast alle in Uniform. Drei mit Vollbärten. Einer verheiratet.

Ich entdecke an meinem Platz eine Schnitzerei mit meinem Namen, sauber mit dem Taschenmesser gearbeitet und mit Tinte ausgemalt, ich erinnere mich noch, daß ich diese Leistung in der Geschichtsstunde vollbracht habe; dennoch meine ich, es sei vor hundert Jahren gewesen, so ein sonderbares Gefühl ist es, hier zu sitzen. Der Krieg wird dadurch zur Vergangenheit, und der Kreis schließt sich erneut. Aber wir sind nicht mehr darin.

Unser Deutschlehrer Hollermann kommt und erledigt zunächst das Notwendigste; er gibt uns die Dinge zurück, die von früher her von uns noch lagern. Das lastete wohl schon lange auf seiner ordentlichen Schulmeisterseele. Er schließt den Klassenschrank auf und nimmt die Sachen heraus; Zeichenständer, Reißbretter, und vor allem die dicken blauen Packen der Hefte — Aufsätze, Diktate, Klassenarbeiten. Ein hoher Stapel sammelt sich links neben ihm auf dem Katheder. Die Namen werden aufgerufen, wir melden uns und nehmen die Hefte in Empfang. Willy wirft sie herüber, daß die Löschblätter fliegen.

«Breyer!«—»Hier!«

«Brücker!«—»Hier!«

«Detlefs!«—

Schweigen.»Tot!«ruft Willy.

Detlefs, klein, blond, krumme Beine, einmal sitzengeblieben. Gefreiter, gefallen 1917 am Kemmelberg.

Das Heft wandert auf die rechte Seite des Katheders.

«Dirker!«—»Hier!«

«Dierksmann!«—»Tot!«

Dierksmann, Bauernsohn, großer Skatspieler, schlechter Sänger, gefallen bei Ypern. Das Heft geht nach rechts.

«Eggers!«—

«Noch nicht da!«ruft Willy. Ludwig ergänzt:»Lungenschuß, liegt im Reservelazarett Dortmund, kommt von da drei Monate nach Lippspringe.«

«Friederichs!«—»Hier!«

«Giesecke!«—»Vermißt!«

«Stimmt nicht«, erklärt Westerholt.

«Er ist doch vermißt gemeldet«, sagt Reinersmann.

«Richtig«, gibt Westerholt zurück,»aber er ist seit drei Wochen hier in der Irrenanstalt. Ich habe ihn selbst gesehen.«

«Gehring I!«—»Tot!«

Gehring I; Primus, schrieb Gedichte, gab Privatstunden, kaufte für das Geld Bücher. Gefallen bei Soissons, zusammen mit seinem Bruder.

«Gehring II«, murmelt der Deutschlehrer nur und legt das Heft von selbst zu den ändern nach rechts.

«Schrieb wirklich gute Aufsätze«, sagt er nachdenklich, und blättert noch einmal das Heft von Gehring I durch.

Noch manches Heft geht nach rechts, und als alle aufgerufen sind, liegt ein dicker Packen zurückgebliebener Arbeiten da. Unschlüssig sieht Oberlehrer Hollermann ihn an. Sein Ordnungsgefühl rebelliert wohl, denn er weiß nicht, was er damit anfangen soll. Schließlich findet er einen Ausweg. Man kann die Hefte an die Eltern der Toten schicken.

Aber Willy ist damit nicht einverstanden.»Meinen Sie, daß die Eltern sich darüber freuen werden, wenn sie so ein Heft voll >Ungenü- gend< und >Mangelhaft< sehen?«fragt er.»Lassen Sie das lieber!«Hollermann sieht ihn mit runden Augen an.»Ja, was soll ich denn sonst machen damit?«

«Liegenlassen«, sagt Albert.

Hollermann ist beinahe entrüstet.»Aber das geht doch auf keinen Fall, Troßke, diese Hefte gehören doch nicht der Schule, die kann man doch nicht einfach liegenlassen.«

«O Gott, was für Umstände«, stöhnt Willy und fährt sich durch die Haare.»Geben Sie die Hefte uns, wir werden sie schon besorgen. «Zögernd rückt Hollermann sie raus.»Aber — «meint er ängstlich, denn es ist ja fremdes Eigentum.

«Ja, ja«, sagt Willy,»alles, was Sie wollen, ganz ordentlich frankiert, mit Einschreiben, beruhigen Sie sich nur! Ordnung muß sein, wenn's auch weh tut!«Er blinzelt uns zu und zeigt auf seine Stirn.

Nach der Stunde blättern wir unsere Arbeiten durch. Das letzte Thema, das wir als Aufsatz bearbeitet haben, hieß: Warum muß Deutschland den Krieg gewinnen? Das war Anfang 1916. Einleitung, sechs Beweispunkte, zusammenfassender Schluß. Punkt vier:»Aus religiösen Gründen «habe ich nicht gut gelöst. Mit roter Tinte steht am Rande: sprunghaft und nicht überzeugend. Im ganzen aber ist die siebenseitige Arbeit mit zwei minus zensiert, ein gutes Resultat, wenn man die Tatsachen heute danebenhält. Willy liest seine Arbeit in Naturgeschichte:»Das Buschwindröschen und sein Wurzelstock «laut vor. Grinsend sieht er sich um.»Damit sind wir ja wohl fertig, was?«

«Erledigt«, ruft Westerholt.

Ja, erledigt, wahrhaftig! Wir haben alles vergessen, darin liegt bereits das Urteil. Das, was Bethke und Kosole uns beigebracht haben, vergessen wir nicht.

Nachmittags holen Albert und Ludwig mich ab. Wir wollen sehen, wie es unserm Kameraden Giesecke geht. Unterwegs treffen wir Georg Rahe. Er schließt sich uns an, denn er hat Giesecke auch gekannt. Es ist ein klarer Tag. Vom Hügel, auf dem das Gebäude liegt, kann man weit über die Felder sehen. Gruppenweise arbeiten dort die Irren in ihren blauweiß gestreiften Jacken unter der Aufsicht uniformierter Wächter. Aus einem Fenster des rechten Flügels hören wir Gesang.»An der Saale hellem Strande…«Es muß ein Kranker sein. Sonderbar klingt es durch das Eisengitter:»Und die Wolken ziehen — drüber hin…«

Giesecke ist in einem großen Saal mit einigen anderen Kranken untergebracht. Als wir eintreten, schreit einer grelclass="underline" »Deckung — Dek- kung!«und kriecht unter den Tisch. Die ändern kümmern sich nicht darum. Giesecke kommt uns sofort entgegen. Er hat ein schmales, gelbes Gesicht und sieht mit dem spitzen Kinn und den abstehenden Ohren viel jünger aus als früher. Nur seine Augen sind unruhig und alt.

Bevor wir ihn begrüßen können, zieht uns jemand beiseite.»Was Neues draußen?«fragt er.

«Nein, nichts Neues«, erwidere ich.

«Und die Front? Haben wir Verdun nun endlich?«

Wir sehen uns an.»Es ist ja längst Frieden«, sagt Albert beruhigend.

Er lacht, ein unangenehmes, meckerndes Gelächter.»Laßt euch doch nicht anscheißen! Die wollen euch bloß dumm machen und lauern nur darauf, daß wir rauskommen sollen! Und dann heidi geschnappt und an die Front. «Geheimnisvoll setzt er hinzu:»Mich kriegen sie nicht wieder!«

Giesecke gibt uns die Hand. Wir sind befangen, denn wir hatten gedacht, er würde wie ein Affe rumturnen und toben und Grimassen schneiden oder wenigstens andauernd zittern, wie die Schüttler an den Straßenecken. Statt dessen lächelt er uns mit schiefem, armem Munde an und sagt:»Hättet ihr wohl nicht gedacht, was?«

«Du bist doch ganz gesund«, erwidere ich.»Was hast du denn?«Er streicht sich über die Stirn.»Kopfschmerzen. Wie ein Ring im Hinterkopf. Und dann Fleury…«

Er ist bei den Kämpfen um Fleury verschüttet worden und hat stundenlang mit einem ändern zusammengelegen, das Gesicht durch einen Balken gegen dessen Hüfte gepreßt, die bis zum Bauch aufgerissen war. Der andere hatte den Kopf frei und schrie. Dann strömte jedesmal eine Welle Blut über Gieseckes Gesicht. Allmählich drückten sich die Därme aus dem Bauch und drohten ihn zu ersticken. Er mußte sie zurückquetschen, um Luft zu kriegen und hörte dabei immer das dumpfe Aufbrüllen des ändern, wenn er hineingriff.