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Ich blättere im ersten Band einer Eichendorffausgabe, die in ganz weiches, blaues Leder gebunden ist. Abendrot, Wälder und Träume

— Sommernächte, Sehnsucht und Heimweh — welch eine Zeit war dasl

Willy hat den zweiten Band in der Hand. Nachdenklich betrachtet er ihn.»Du müßtest sie einem Schuhmacher anbieten«, schlägt er vor.

«Wieso?«fragt Ludwig lächelnd.

«Das Leder«, antwortet Willy,»die Schuhmacher haben doch überhaupt kein Leder mehr. Hier — «er nimmt Goethes Werke auf —»zwanzig Bände —, das gibt mindestens sechs Paar tadellose Lederschuhe. Die Schuhmacher geben dir bestimmt mehr dafür als die Buchhändler. Die sind ja ganz wild auf echtes Leder!«

«Wollt ihr was davon haben?«fragt Karl.»Ihr kriegt Vorzugspreise. «Aber keiner will etwas haben.

«Überleg's dir nochmal«, sagt Ludwig,»später ist es schwer, sie wiederzukaufen.«

«Nicht so wichtig«, lacht Karl,»erst mal leben, das ist besser als lesen. Auf mein Examen pfeife ich auch. Das ist alles Quatsch! Morgen geht's los mit den Schnapsproben. Zehn Mark Verdienst an einer Flasche geschmuggeltem Kognak, das zieht hin, mein Lieber! Geld ist das einzige, was du brauchst, dann kannst du alles haben.«

Er bündelt die Bücher zusammen. Mir fällt ein, daß er früher lieber nicht gegessen hätte, statt eines zu verkaufen.»Was macht ihr für verblüffte Gesichter«, spottet er,»praktischmuß man sein! Den alten Ballast über Bord und ein neues Leben anfangen!«

«Das stimmt«, gibt Willy zu,»ich würde meine auch verkloppen — wenn ich bloß welche hätte.«

Karl klopft ihm auf die Schulter.»Ein Zentimeter Handel ist besser als ein Kilometer Bildung, Willy. Ich habe lange genug draußen im Dreck gesessen — ich will jetzt was vom Leben haben!«

«Eigentlich hat er recht«, sage ich,»was machen wir denn schon? Das bißchen Schule, das ist doch gar nichts. —«

«Kinder, haut auch ab«, rät Karl,»was wollt ihr noch auf der

Penne?«

«Gott«, erwidert Willy,»Quatsch ist es, das stimmt. Aber wir sind doch wenigstens zusammen. Und dann sind es ja nur noch die paar Monate bis zum Examen, da wäre es doch schade, das nicht eben noch mitzunehmen. Danach kann man ja immer noch sehen..«

Karl schneidet Packpapier von einer Rolle.»Paß auf, so wirst du immer irgend ein paar Monate haben, um die es eigentlich schade ist — und zum Schluß bist du ein alter Mann. —«

Willy grinst.»Abwarten und Tee trinken. —«

Ludwig steht auf.»Was sagt denn dein Vater dazu?«

Karl lacht.»Was so ältere, ängstliche Leute sagen. Das kann man ja nicht ernst nehmen. Eltern vergessen immer, daß man doch Soldat gewesen ist.«

«Was wärst du denn geworden, wenn du kein Soldat gewesen wärest?«frage ich.

«Wahrscheinlich Buchhändler — ich Ochse — «, antwortet Karl.

Auf Willy hat Karls Entschluß großen Eindruck gemacht. Er schlägt vor, allen Krimskram zu lassen und die Dinge kräftig anzupacken, da, wo sie zu packen sind.

Den leichtesten Lebensgenuß aber hat man beim Fressen. Wir beschließen deshalb, einen Hamsterzug zu machen. Auf Lebensmittelkarten gibt es jede Woche für eine Person zweihundertfünfzig Gramm Fleisch, zwanzig Gramm Butter, fünfzig Gramm Margarine, hundert Gramm Graupen und etwas Brot. Davon kann kein Mensch satt werden.

Abends und nachts sammeln sich die Hamsterer schon auf dem Bahnhof, um in der Frühe in die Dörfer zu fahren. Wir müssen deshalb mit dem ersten Zuge fort, damit sie uns nicht zuvorkommen. Graues Elend hockt verdrossen im Abteil, als wir abdampfen. Wir suchen uns einen abseitsliegenden Ort und verteilen uns dort, immer zu zweien, um ihn systematisch abzugrasen. Patrouillegehen haben wir ja gelernt.

Ich bin mit Albert zusammen. Wir kommen an einen großen Hof. Der Misthaufen dampft. Kühe stehen in langer Reihe auf der Diele. Der warme Geruch von Stall und Milch empfängt uns. Hühner gak- kern. Wir sehen sie begehrlich an, beherrschen uns aber, denn es sind Leute auf der Tenne. Wir grüßen. Niemand beachtet uns. Wir bleiben stehen. Schließlich schreit eine Frau:»Schert euch vom Hof, verdammtes Bettelvolk.«

Nächster Hof. Der Bauer steht gerade draußen. Er trägt einen langen Militärmantel, schwippt mit der Peitsche und sagt:»Wißt ihr, wieviel vor euch schon hier waren? Ein Dutzend. «Wir staunen, denn wir sind doch mit dem ersten Zug abgefahren. Die müssen wohl schon abends gekommen und in Schuppen oder im Freien übernachtet haben.»Wißt ihr, wieviel manchmal am Tage kommen?«fragt der Bauer weiter.»An hundert. Was soll man denn da machen?«

Das sehen wir ein. Sein Blick haftet an Alberts Uniform.»Flandern?«fragt er.»Flandern«, antwortet Albert.»Ich auch«, sagt er, geht rein und holt jedem von uns zwei Eier. Wir fingern an unsern Brieftaschen. Er winkt ab.»Laßt stecken. Wird auch so gehen.«

«Na, danke auch, Kamerad.«

«Nichts zu danken. Aber erzählt's nicht weiter. Sonst ist morgen halb Deutschland hier.«

Das nächste Haus. Ein plackiges Schild am Zaun.»Hamstern verboten. Bissige Hunde. «Das ist praktisch.

Wir gehen weiter. Ein Eichenkamp und ein großer Hof. Wir dringen bis in die Küche vor. In der Mitte steht ein Kochherd neuester Konstruktion, der für ein Hotel ausreichen könnte. Rechts ein Klavier, links ein Klavier. Ein großartiger Bücherschrank mit gedrehten Säulen und Goldschnittbänden gegenüber dem Herd. Davor noch der alte Tisch und die hölzernen Schemel. Es sieht komisch aus. Und gleich zwei Klaviere.

Die Bäuerin erscheint.»Habt ihr Zwirn? Aber es muß echter sein. «Wir sehen uns an.»Zwirn? Nein.«

«Oder Seide? Seidene Strümpfe?«

Ich schaue die kräftigen Waden der Frau an. Wir verstehen allmählich: sie will tauschen, nicht verkaufen.

«Nein, Seide haben wir nicht«, sage ich,»aber wir wollen gern gut bezahlen.«

Sie wehrt ab.»Ach, Geld, Drecklappen. Ist ja jeden Tag weniger wert. «Sie schlurft weg. An ihrer knallroten Seidenbluse fehlen hinten zwei Knöpfe.

«Können wir wenigstens etwas Wasser haben?«ruft Albert hinterher. Mißmutig kehrt sie um und stellt uns einen Becher voll hin.

«Na, los, ich hab' keine Zeit zum rumstehen«, knört sie.»Solltet auch lieber arbeiten, als ändern Leuten die Zeit stehlen.«

Albert nimmt den Becher und schmeißt ihn auf den Boden. Er kann vor Wut nicht reden. Dafür rede ich.»Krebs sollst du kriegen, alte Schlampe«, brülle ich. Aber jetzt dreht das Weib sich um und legt los wie eine Blechschmiede in vollem Betrieb. Wir flüchten. So was hält der stärkste Mann nicht aus.

Wir marschieren weiter. Unterwegs treffen wir ganze Schwärme von Hamsterern. Wie ausgehungerte Wespen um ein Stück Pflaumenkuchen, so kreisen sie um die Gehöfte. Wir begreifen jetzt, daß die Bauern dabei verrückt und grob werden können. Aber wir gehen trotzdem weiter, werden rausgeschmissen oder erwischen etwas, werden von anderen Hamsterern beschimpft und schimpfen wieder.

Nachmittags treffen wir uns alle in der Kneipe. Die Ausbeute ist nicht groß. Ein paar Pfund Kartoffeln, etwas Mehl, einige Eier, Äpfel, etwas Kohl und Fleisch. Nur Willy schwitzt. Er kommt als letzter und schleppt einen halben Schweinskopf unterm Arm. Ein paar andere Pakete ragen ihm aus den Taschen. Dafür hat er allerdings keinen Mantel mehr an. Er hat ihn eingetauscht, denn er hat noch einen von Karl zu Hause und meint, es müsse zudem ja irgendwann mal Frühling werden.

Wir haben noch zwei Stunden Zeit, bis der Zug fährt. Sie bringen mir Glück. In der Wirtsstube steht nämlich ein Klavier, auf dem ich das» Gebet einer Jungfrau «mit vollen Pedalen hinlege. Darüber erscheint die Wirtin. Sie hört eine Zeitlang zu, dann zwinkert sie mir zu, ich solle herauskommen. Ich drücke mich in den Flur und sie erklärt mir, sie sei Musikfreundin, leider werde bei ihr aber nur selten gespielt. Ob ich nicht wiederkommen wolle. Dabei überreicht sie mir ein halbes Pfund Butter und erklärt, das sei öfter zu haben. Ich bin natürlich einverstanden und verpflichte mich, dafür jedesmal zwei Stunden zu spielen. Als nächste Leistung gebe ich das» Heidegrab «und» Stolzenfels am Rhein «zum besten.