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«Willy, du Schafsnase«, sage ich,»warum hast du denn nicht wenigstens einen Versuch gemacht, vielleicht hättest du die bronzene Medaille gekriegt!«

«Ja, tatsächlich«, pflichtet Karl mir bei,»warum hast du das nicht getan?«

Willy steht auf, reckt sich, zieht den Cut zureckt, blickt uns hoheitsvoll an und antwortet nur das eine Wort:»Darum!«

Gerade ruft der Mann mit der Chrysantheme zur Foxtrottkonkurrenz aus. Es melden sich nur wenige Paare. Willy geht nicht, er schreitet zum Parkett.

«Er hat doch keine Ahnung davon«, prustet Karl.

Gespannt hängen wir über unseren Stühlen, um zu sehen, was das gibt. Die Löwenbändigerin kommt Willy entgegen. Er reicht ihr mit großer Gebärde den Arm. Die Musik beginnt.

In diesem Moment verwandelt Willy sich in ein wildgewordenes Kamel. Er springt in die Luft und hinkt, hüpft, kreiselt, er schmeißt die Beine und wirft die Dame hin und her, dann rast er im kurzen Schweinsgalopp durch den Saal, die Zirkusreiterin nicht vor sich, sondern neben sich, so daß sie an seinem ausgestreckten rechten Arm Klimmzüge macht, während er volle Freiheit nach der ändern Seite hat, ohne Sorge, ihr die Füße zu zertrampeln. Gleich darauf imitiert er ein Karussell auf der Stelle, so daß seine Cutschöße waagrecht abstehen, startet im nächsten Moment mit zierlichen Hupfschritten quer übers Parkett wie ein Ziegenbock, der Pfeffer unter dem Schwanz hat, donnert und wirbelt und tost und schließt endlich mit einer unheimlichen Pirouette, bei der er seine Dame hoch durch die Luft schwenkt.

Kein Mensch im Saal zweifelt daran, einen bisher unbekannten Meister des Überfoxtrotts vor sich zu sehen. Willy hat seine Chance erkannt und ausgenützt. Er siegt so überlegen, daß nach ihm eine Zeitlang erst gar nichts kommt und dann der zweite Preis. Triumphierend hält er uns die Buddel Schnaps entgegen. Allerdings hat er so geschwitzt, daß sein Cut abgefärbt hat; das Hemd und die Weste sind schwarz geworden, der Cut dagegen erscheint beinahe heller.

Das Turnier ist beendet, aber der Tanz geht weiter. Wir sitzen am Tisch und trinken Willys Gewinn aus. Nur Albert fehlt — er ist von dem blonden Mädchen nicht wegzuschlagen.

Willy stößt mich an:»Du, da ist Adele.«

«Wo?«frage ich rasch.

Er zeigt mit dem Daumen in das Gewühl auf dem Parkett. Wahrhaftig, da tanzt sie mit einem langen, schwarzen Kerl Walzer.»Ist sie schon lange hier?«erkundige ich mich, denn ich möchte gern, daß sie unsere Triumphe gesehen hätte.

«Vor fünf Minuten gekommen«, antwortet Willy.

«Mit dem langen Lulatsch?«

«Mit dem langen Lulatsch.«

Adele hält den Kopf beim Tanzen ein wenig zurückgebeugt. Eine

Hand hat sie auf die Schulter des schwarzen Kerls gelegt. Wenn ich ihr Gesicht von der Seite sehe, dann stockt mir manchmal der Atem, so ähnlich ist es im verhangenen Lampenlicht des Saales meiner Erinnerung an die Abende vor dem Kriege. Aber von vorn ist es voller, und wenn sie lacht, ist es ganz fremd.

Ich nehme einen großen Schluck aus Willys Flasche. Gerade tanzt die kleine Näherin vorbei. Sie ist schmaler und zierlicher als Adele. Neulich, im Nebel auf der Großen Straße, habe ich es nicht so gesehen: aber Adele ist eine richtige Frau geworden mit vollen Brüsten und kräftigen Beinen. Ich kann mich nicht entsinnen, ob sie früher auch so war; da habe ich wohl nicht darauf geachtet.

«Strammer Feger geworden«, sagt Willy.

«Ach, halt die Schnauze«, erwidere ich ärgerlich.

Der Walzer ist aus. Adele lehnt an der Tür. Ich gehe hin. Sie begrüßt mich. Dabei plaudert und lacht sie mit ihrem schwarzen Kerl weiter. Ich bleibe stehen und blicke sie an. Das Herz schlägt mir wie vor einer großen Entscheidung.

«Was siehst du mich denn so an?«, fragt sie.

«Ach nichts«, sage ich,»wollen wir tanzen?«

«Diesen nicht, den nächsten«, antwortet sie und geht mit ihrem Begleiter zum Parkett.

Ich warte auf sie, und wir tanzen einen Boston miteinander. Ich gebe mir große Mühe, und sie lächelt anerkennend.

«Tanzen hast du im Felde ja gelernt.«

«Da gerade nicht«, sage ich,»aber vorhin haben wir einen Preis bekommen.«

Sie blickt rasch auf.»Schade, das hätten wir zusammen machen können. Was war es denn?«

«Sechs Möweneier und eine Medaille«, erwidere ich, und mir steigt die Wärme in die Stirn. Die Geigen spielen so leise, daß man das Schlurfen der vielen Schritte hört.

«Jetzt tanzen wir zusammen«, sage ich,»weißt du noch, wie wir abends vom Turnverein hintereinander herrannten?«

Sie nickt.»Ja, damals waren wir noch ziemlich kindisch. Sieh mal drüben, das Mädchen mit dem roten Kleid — diese überfallenden Blusen sind jetzt das Modernste. Schick, was?«

Die Geigen geben die Melodie an das Cello ab. Zitternd, wie ein verhaltenes Weinen, beben sie über den goldbraunen Tönen.»Als ich dich zum erstenmal angesprochen habe, sind wir beide weggelaufen«, sage ich,»es war im Juni auf dem Stadtwall, ich weiß es noch wie damals.«

Adele winkt jemand zu. Dann erst wendet sie den Kopf wieder her.»Ja, so was Albernes. Kannst du eigentlich Tango tanzen? Drüben, der Schwarze ist ein fabelhafter Tangotänzer.«

Ich antworte nicht. Die Musik schweigt.»Willst du etwa an unsern Tisch kommen?«frage ich.

Sie sieht hin.»Wer ist der Schlanke da mit den Lackschuhen?«»Karl Bröger«, erwidere ich. Sie setzt sich zu uns. Willy bietet ihr ein Glas an und macht einen Witz. Sie lacht und schaut zu Karl hinüber. Ab und zu streift sie auch mit einem Blick Karls Schlittenpferd — es ist das Mädchen mit dem modernen Kleid. Ich betrachte sie erstaunt, so hat sie sich verändert. Hat mich die Erinnerung denn auch hier getäuscht? Ist sie gewuchert und gewuchert, bis sie die Wirklichkeit zugewachsen hat? Das ist ja ein fremdes, etwas lautes Mädchen hier am Tisch, das viel zuviel redet. Muß nicht darunter noch jemand anders verborgen sein, den ich besser kenne? Kann sich etwas denn so verschieben, nur weil man älter wird? Vielleicht sind es die Jahre, denke ich, es ist ja über drei Jahre her, damals war sie sechzehn und ein Kind, jetzt ist sie neunzehn und erwachsen. — Und plötzlich überfällt mich die namenlose Schwermut der Zeit — das rinnt und rinnt und verändert sich, und wenn man zurückkehrt, findet man nichts wieder. Ach, Abschiednehmen ist schwer — aber Wiederkommen ist manchmal wohl noch schwerer.

«Was machst du für ein komisches Gesicht, Ernst?«fragt Willy,»hast du Kohldampf?«

«Er ist langweilig«, sagt Adele lachend,»das war er früher auch schon immer. Sei doch mal ein bißchen flott! Das haben die Mädels lieber, als so dasitzen wie ein Trauerkloß!«

Vorbei, denke ich, auch wieder vorbei. Nicht, weil sie mit dem schwarzen Kerl und mit Karl Bröger poussiert, nicht weil sie mich langweilig findet, nicht weil sie anders geworden ist — nein, ich sehe jetzt, daß alles keinen Zweck hat. Ich bin herumgelaufen und herumgelaufen, ich habe an alle Türen meiner Jugend geklopft und wollte wieder hinein, ich dachte, daß sie mich wieder aufnehmen müßte, weil ich doch noch jung bin, und es mir so sehr gewünscht hatte, zu vergessen — aber sie huschte vor mir davon wie eine Fata Morgana, sie zerbrach lautlos, sie zerfiel wie Zunder, wenn ich sie anrührte, ich konnte es nicht begreifen, wenigstens hier mußte doch etwas geblieben sein, ich versuchte es immer wieder und wurde lächerlich und traurig darüber — doch jetzt erkenne ich, daß ein stiller, schweigender Krieg auch in dieser Landschaft der Erinnerung gewütet hat, und daß es sinnlos von mir wäre, weiter zu suchen. Die Zeit steht dazwischen wie eine breite Kluft, ich kann nicht zurück, es gibt nichts anderes mehr, ich muß vorwärts, marschieren, irgendwohin, denn ich habe noch kein Ziel.