Er ist der Unteroffizier Anton Demuth, ein früherer Küchenbulle von uns. Ich mache ihm eine stramme Ehrenbezeigung, denn beim Kommiß wurde uns eingebleut, Ehrenbezeigungen gälten der Uniform und nicht dem Träger. Diese Phantasieuniform hier aber ist große Klasse und mindestens ein Frontmachen wert.
«Mahlzeit, Anton«, lache ich,»sag mal, um gleich von was Vernünftigem zu reden: hast du was zu fressen?«
«Pupille«, antwortet er zustimmend,»Elstermanns Franz ist nämlich auch hier in diesem Saftladen. Als Koch!«
«Wann kann ich vorbeikommen?«frage ich, denn diese Tatsache genügt, um Bescheid zu wissen. Elstermann und Demuth waren die größten Requirierer von ganz Frankreich.
«Nach ein Uhr heute abend«, zwinkert Anton,»wir haben von einem Provianiamtsinspektor ein Dutzend Gänse rübergeschoben gekriegt, Schleichware. Da kannst du sicher sein, daß Elstermanns Franz vorher ein paar amputiert! Wer will behaupten, daß es bei Gänsen keinen Krieg gibt, in dem sie ihre Beine verlieren können?«»Keiner«, sage ich und frage:»Betrieb hier?«
«Jeden Abend bombenvoll. Mal reinsehen?«
Er schiebt die Portiere etwas zur Seite. Ich schiele durch einen Spalt in den Raum. Weiches, warmes Licht liegt über den Tischen, bläulicher Zigarettenrauch zieht in Streifen hindurch, Teppiche schimmern, Porzellan glänzt, und Silber leuchtet. An den Tischen sitzen Frauen, von Kellnern umgeben, und bei ihnen Männer, die nicht im geringsten schwitzen oder verlegen sind. Mit wunderbarer Selbstverständlichkeit geben sie ihre Anweisungen.»Na, Mensch, mal mit so einer richtig auf die Rutschbahn, was?«meint Anton und knufft mich in die Rippen.
Ich antworte nicht, denn dieser farbige, wolkige Ausschnitt Leben erregt mich merkwürdig. Es ist etwas Unwirkliches darin, fast als träumte ich nur, hier auf der dunklen Straße im nassen Schneebrei zu stehen und dieses Bild durch den Türspalt zu sehen. Ich bin gebannt davon, ohne zu vergessen, daß da vermutlich nur eine Anzahl Schieber ihr Geld ausgibt — aber wir haben zu lange in dreckigen Erdlöchern gelegen, als daß nicht manchmal eine heftige und ganz irrsinnige Gier nach Luxus und Eleganz in uns aufspränge — denn Luxus ist Behütet- und Gepflegtsein —, und gerade das kennen wir ja überhaupt nicht.
«Na, Mann, wie ist das?«fragt Anton mich noch einmal,»ganz mollige Bettmiezen, was?«
Ich komme mir albern vor, aber ich kann im Moment nicht richtig antworten. Dieser ganze Ton, den ich nun schon jahrelang gedankenlos mitmache, erscheint mir mit einmal roh und widerlich. Zum Glück erstarrt Anton gerade in Haltung und Würde, weil ein Auto vorfährt. Ein schlankes Geschöpf steigt aus und geht durch die Tür, ein wenig vorgebeugt, den Pelz mit einer Hand auf der Brust gerafft, das Haar glänzend unter einem eng anliegenden goldenen Helm, die Knie dicht beieinander, mit schmalen Füßen und schmalem Gesicht. Mit leicht nachgebenden Gelenken schreitet es an mir vorüber, in einem matten, bitteren Duft — und plötzlich erfaßt mich ein rasender Wunsch, mit diesem Frauenkind durch die Drehtür zu den Tischen gehen zu können in die wohlige, behütete Atmosphäre der Farben und des Lichtes, sorglos schlendernd durch ein von Kellnern, Dienern und der Isolierschicht des Geldes eingefaßtes, mildes Dasein, ohne die Not und den Dreck, die seit Jahren unser tägliches Brot sind. Ich muß wohl sehr schuljungenhaft aussehen, denn Anton Demuth läßt ein Gelächter aus seinem Bart kollern und pufft mich mit schiefem Blick in die Seite.»Wenn sie auch in Samt und Seide gehen — im Bett ist das alles dasselbe.«
«Natürlich«, sage ich und setze einen schweinischen Witz darauf, damit er mir ja nicht anmerkt, was los ist.»Also bis eins, Anton!«»Pupille«, antwortet er würdig,»oder Bonßoahr, wie der Franzose sagt.«
Ich gehe weiter, die Hände tief in den Taschen. Der Schnee quatscht unter meinen Schuhen. Unwillig stoße ich ihn weg. Was könnte ich denn schon machen, wenn ich wirklich mit einer solchen Frau am Tisch säße? Ich könnte sie nur anstarren, weiter nichts. Noch nicht einmal essen könnte ich, ohne in Verlegenheit zu kommen. Wie schwierig muß das sein, denke ich, mit einem solchen Wesen den ganzen Tag zusammen zu sein. Immer aufpassen, immer aufpassen. Und erst des Nachts — da wüßte ich überhaupt nichts. Ich habe wohl schon was mit Frauen gehabt, aber das habe ich von Jupp und Valentin gelernt, und bei solchen Damen ist das sicher nicht richtig. —
Im Juni 1917 bin ich zum ersten Male bei einer Frau gewesen. Unsere Kompanie lag damals in Barackenquartieren, es war Mittag, und wir balgten uns auf der Wiese mit zwei jungen Hunden herum, die uns zugelaufen waren. Mit fliegenden Ohren und glänzendem Fell tobten die Tiere durch das hohe, sommerliche Gras, der Himmel war blau und der Krieg weit fort.
Da kam Jupp von der Schreibstube hergelaufen. Die Hunde rannten ihm entgegen und sprangen an ihm hoch. Er schüttelte sie ab und rief:»Befehl gekommen, heute abend müssen wir los!«Wir wußten, was das bedeutete. Seit Tagen grollte das Trommelfeuer der großen Offensive am westlichen Horizont, seit Tagen sahen wir abgekämpfte Regimenter zurückkehren, und wenn wir jemand davon fragten, antwortete er nur mit einer Handbewegung und blickte weiter starr geradeaus, seit Tagen rollten Wagen mit Verwundeten vor
über, seit Tagen schanzten wir Morgen für Morgen lange Reihengräber —.
Wir standen auf. Bethke und Weßling gingen zu ihren Tornistern, um Briefpapier herauszusuchen, Willy und Tjaden wanderten zur Gulaschkanone, und Franz Wagner und Jupp redeten mir zu, mit ihnen zum Puff zu gehen.
«Mensch, Ernst«, sagte Wagner,»du mußt doch auch mal eine Ahnung davon kriegen, was ein Weib ist! Wer weiß, ob wir nicht morgen alle schon hops sind, die sollen da ja einen Haufen neue Artillerie haben. Das wäre doch zu blödsinnig, wenn du als keusche Jungfrau in die Binsen hautest.«
Das Feldbordell lag in einer kleinen Stadt, ungefähr eine Stunde weit weg. Wir bekamen einen Ausweis und mußten ziemlich lange warten; denn es gingen noch andere Regimenter nach vorn, und da wollten viele noch schnell vom Leben mitnehmen, was sie konnten. In einer kleinen Stube mußten wir unsern Ausweis abgeben. Ein Sanitätsgefreiter untersuchte uns, ob wir gesund wären, dann bekamen wir einige Tropfen Protargol eingespritzt, und ein Feldwebel erklärte uns, es koste drei Mark und dürfe wegen des Andranges nicht länger als zehn Minuten dauern. Darauf stellten wir uns auf der Treppe an.
Die Reihe rückte langsam vorwärts. Oben klappten die Türen. Jedesmal kam einer heraus, und dann hieß es: der nächste.
«Wieviel Kühe sind da?«fragte Franz Wagner einen Pionier.»Drei«, erwiderte der,»aber aussuchen darfst du nicht. Es ist eine Lotterie — wenn du Schwein hast, schnappst du 'ne Großmutter.«
Mir wurde fast schlecht in dem muffigen Treppenaufgang, in dem die Hitze und der Dunst der ausgehungerten Soldaten brodelte. Ich hätte mich gerne gedrückt, denn mir war alle Neugier vergangen. Aber ich fürchtete mich davor, daß die anderen mich auslachen würden, deshalb wartete ich weiter.
Schließlich kam ich an die Reihe. Mein Vorgänger stolperte an mir vorbei, und ich trat in das Zimmer. Es war niedrig und dunkel und roch so sehr nach Karbol und Schweiß, daß es mir sonderbar erschien, vor dem Fenster die Äste einer Linde zu sehen, in deren frischem Laub Wind und Sonne wirbelten: so verbraucht war alles in dem Raum. Eine Schüssel mit rosa Wasser stand auf einem Stuhl, und in der Ecke war eine Art Feldbett, auf dem eine zerschlissene Decke lag. Die Frau war dick und trug ein durchsichtiges, kurzes Hemd. Sie sah mich gar nicht an, sondern legte sich gleich hin. Erst als ich nicht kam, blickte sie ungeduldig auf; dann erschien ein Zug des Verstehens auf ihrem schwammigen Gesicht. Sie sah, daß ich noch ganz jung war. Ich konnte einfach nicht, ein Schauder ergriff mich und ein würgender Ekel. Die Frau machte ein paar Gesten, um mich aufzurütteln, plumpe, widerliche Gesten, sie wollte mich heranziehen und lächelte sogar dabei, süßlich und geziert, man hätte Mitleid mit ihr haben können, denn sie war ja schließlich nur eine armselige Armeematratze, die jeden Tag zwanzig, dreißig Kerle und mehr aushalten mußte — aber ich legte ihr das Geld hin und ging rasch wieder fort, die Treppe hinunter.