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«Kinder, wir schreiben jetzt ein großes lateinisches L«, sage ich und trete an die Tafel.»Zehn Reihen L, dann fünf Reihen Lina und fünf Reihen Lerche.«

Ich schreibe die Worte langsam mit der Kreide vor. Ein Rascheln und Rauschen ertönt hinter mir. Ich erwarte, daß man mich auslacht, und drehe mich um. Aber nur die Hefte sind aufgeklappt worden und die Schiefertafeln zurechtgeschoben: Folgsam beugen sich die vierzig Köpfe über ihre Arbeit. Ich bin fast überrascht davon.

Die Griffel knirschen und die Federn kratzen. Ich gehe zwischen den Bänken hin und her.

An der Wand hängt ein Kruzifix, eine ausgestopfte Schleiereule und eine Landkarte von Deutschland. Draußen-vor den Fenstern ziehen immerfort eilig und niedrig die Wolken.

Die Karte von Deutschland ist in grünen und braunen Farben ausgeführt. Ich bleibe vor ihr stehen. Die Grenzen sind rot schraffiert, in sonderbarem Zickzack laufen sie von oben nach unten. Köln- Aachen, da sind die dünnen schwarzen Fäden der Eisenbahnlinien — Herbesthal, Lüttich, Brüssel, Lille —, ich stelle mich auf die Zehen — Roubaix — Arras, Ostende —, wo ist denn der Kemmelberg? — Er ist gar nicht darauf — aber da Langemarck, Ypern, Bixschoote, Staden. Wie klein sie auf der Karte sind, winzige Punkte nur, stille, winzige Punkte — und dabei donnerte der Himmel, und die Erde bebte dort am 31. Juli, als der große Durchbruchsversuch begann und wir bis zur Nacht schon alle Offiziere verloren hatten —.

Ich wende mich ab und sehe über die blonden und dunklen Köpfe hin, die eifrig über die Worte Lina und Lerche geneigt sind. Sonderbar — für sie werden diese winzigen Punkte auf der Landkarte nichts weiter mehr als einfacher Lehrstoff sein — ein paar neue Ortsnamen und eine Anzahl Daten zum Auswendiglernen für den Unterricht in der Weltgeschichtsstunde —, ebenso wie der Siebenjährige Krieg und die Schlacht im Teutoburger Walde.

In der zweiten Reihe springt ein Knirps auf und hält sein Heft hoch. Er hat die zwanzig Reihen fertig. Ich gehe hin und zeige ihm, daß er die untere Schlinge beim L etwas zu breit gemacht hat. Er sieht mich mit seinen feuchten, blauen Augen so strahlend an, daß ich einen Augenblick den Blick senken muß. Rasch gehe ich zur Tafel und schreibe zwei Wörter mit einem neuen Buchstaben an. Karl und — eine Sekunde stocke ich, aber ich kann nicht anders, als führte eine unsichtbare Hand die Kreide — Kemmelberg.

«Was ist das, >Karl<?«frage ich.

Alle Finger gehen hoch.»Ein Mann«, schreit der Knirps von vorhin.

«Und Kemmelberg?«frage ich nach einer kurzen Pause, fast beklommen, weiter.

Schweigen. Endlich meldet sich ein Mädchen.»Aus der Bibel«, sagt es zögernd.

Ich sehe es eine Weile an.»Nein«, antworte ich dann,»das ist nicht richtig. Du hast Ölberg gemeint oder Libanon, nicht wahr?«Das Mädchen nickt verschüchtert. Ich streiche ihm übers Haar.»Dann wollen wir das mal schreiben. Libanon ist ein sehr schönes Wort. «Nachdenklich wandere ich wieder zwischen den Bänken hin und her.

Ab und zu, trifft mich über einen Heftrand hinweg ein forschender Blick. Ich bleibe am Ofen stehen und sehe mir die jungen Gesichter an. Die meisten sind brav und mittelmäßig, manche verschmitzt, andere dumm — aber in einigen flackert etwas Helleres. Denen wird im Leben nicht alles so selbstverständlich erscheinen und nicht alles so glatt gehen —.

Plötzlich faßt mich eine große Mutlosigkeit. Morgen werden wir nun die Verhältniswörter durchnehmen, denke ich — und nächste Woche schreiben wir ein Diktat — in einem Jahr könnt ihr fünfzig Fragen aus dem Katechismus auswendig, in vier Jahren beginnt ihr mit dem großen Einmaleins — und ihr werdet wachsen, und das Leben wird euch in seine Zangen nehmen, ein dumpferes oder ein wilderes, ein gemäßigteres oder ein zerbrechendes — ihr werdet eure Schicksale haben, und es wird über euch kommen, so oder so — was kann ich euch da schon helfen mit meiner Konjugation oder der Aufzählung deutscher Flüsse —. Vierzig seid ihr — vierzig verschiedene Leben stehen hinter euch und warten. Könnte ich euch helfen, wie gerne täte ich das! Aber wer kann hier dem ändern schon wirklich beistehen? Habe ich auch nur Adolf Bethke helfen können?

Die Klingel schrillt. Die erste Stunde ist zu Ende.

Am nächsten Tag ziehen Willy und ich unsere Cuts an — meiner ist gerade noch rechtzeitig fertig geworden — und machen dem Pastor einen Besuch. Dazu sind wir verpflichtet.

Wir werden freundlich, aber sehr zurückhaltend empfangen, denn durch unsern Schulaufruhr haben wir in soliden Kreisen einen ziemlich schlechten Ruf gekriegt. Abends wollen wir noch den Gemeindevorsteher aufsuchen, denn dazu sind wir ebenfalls verpflichtet. Wir treffen ihn jedoch schon in der Kneipe, die gleichzeitig Poststube ist.

Er ist ein listiger Bauer mit verfälteltem Gesicht, der uns als erstes ein paar große Schnäpse anbietet. Wir nehmen an. Augenzwinkernd kommen jetzt zwei, drei andere Bauern dazu, begrüßen uns und laden uns ebenfalls zu einem Glase ein. Höflich stoßen wir mit ihnen an. Sie plieren und linsen sich hinter den Händen zu — die armen Hühner —, wir haben natürlich sofort gemerkt, daß sie uns besoffen machen wollen, um ihren Spaß zu haben. Sie scheinen das schon öfter probiert zu haben; denn sie erzählen schmunzelnd von anderen jungen Lehrern, die hier gewesen wären. Sie glauben aus drei Gründen, daß wir bald Umfallen werden: erstens weil Städter nach ihrer Meinung weniger vertragen als sie — zweitens weil Schulmeister gebildet und deshalb im Saufen von vomeherein schwächer sind — drittens weil so junge Burschen noch keine richtige Übung besitzen können. Das mag auch bei den früheren Seminaristen, die sie hier gehabt haben, richtig gewesen sein; aber bei uns rechnen sie mit einem nicht: daß wir ein paar Jahre Soldaten waren und den Schnaps kochgeschirrweise getrunken haben. Wir nehmen den Kampf auf. Die Bauern wollen uns nur etwas lächerlich machen — wir aber verteidigen eine dreifache Ehre —, das erhöht unsere Stoßkraft.

Der Vorsteher, der Gemeindeschreiber und ein paar knotige Bauern sitzen uns gegenüber. Sie sind scheinbar die wetterfestesten Säufer. Mit leichtem, bauernschlauem Grinsen stoßen sie mit uns an. Willy tut so, als ob er schon munter wäre. Das Grinsen rundum verstärkt sich.

Wir schmeißen selbst eine Runde Bier mit Schnaps. Darauf hagelt es sieben weitere Runden von den ändern. Die Bauern glauben, daß wir damit erledigt wären. Einigermaßen verblüfft sehen sie uns ungerührt die Gläser kippen. Eine gewisse Anerkennung schimmert in den Blicken, mit denen sie uns mustern. Willy bestellt mit unbewegtem Gesicht eine neue Runde.»Aber kein Bier, nur große Schlucks!«ruft er dem Wirt zu.

«Donnerwetter, nur Schnaps?«fragt der Gemeindevorsteher.»Natürlich, sonst sitzen wir bis morgen früh«, bemerkt Willy ruhig,»von dem Bier wird man ja jedesmal wieder nüchtern!«In den Augen des Vorstehers wächst das Staunen. Mit unsicherer Stimme versichert einer der Bauern, daß wir verdammt supen könnten. Zwei andere stehen schweigend auf und verschwinden. Einige unserer Gegner versuchen bereits, die Gläser verstohlen unter den Tisch zu schütten. Aber Willy achtet darauf, daß keiner sich drückt. Er zwingt ihnen die Hände auf den Tisch und die Gläser in den Rachen. Das Grinsen hat aufgehört. Wir gewinnen Boden.

Nach einer Stunde liegen die meisten mit käsigen Gesichtern in der Bude herum oder torkeln kleinlaut nach draußen. Die Gruppe am Tisch ist bis auf den Vorsteher und den Schreiber zusammengeschmolzen. Ein Duell zwischen den beiden und uns beginnt. Wir sehen zwar auch schon doppelt, aber die beiden lallen längst, das gibt uns neue Kraft.

Nach einer halben Stunde, in der wir alle rote Köpfe gekriegt haben, holt Willy zum Hauptschlage aus.