Выбрать главу

Ich denke nach.»Vielleicht meint sie, daß sie gar nicht recht bei sich war die Zeit, so, als wenn sie bloß geträumt hätte, Adolf.«

«Kann sein«, antwortet er,»aber ich verstehe es nicht. Lange hat es ja wohl auch nicht gedauert.«

«Sie will doch von dem ändern nichts mehr wissen?«frage ich.

«Sie sagt, sie gehöre hierher.«

Ich denke darüber nach. Aber was soll man weiter fragen.»Ist es nun besser für dich, Adolf?«

Er sieht mich an.»Nicht so ganz, Ernst, das kannst du dir wohl denken, noch nicht. Aber das wird schon kommen, meinst du nicht auch?«

Er sieht selbst nicht so aus, als ob er es recht glaubte.

«Sicher wird es schon kommen, Adolf«, sage ich und lege ein paar Zigarren, die ich mir aufgespart habe, auf den Tisch. Wir sprechen noch etwas, dann gehe ich. Im Flur treffe ich die Frau, die hastig an mir vorbei will.»Auf Wiedersehen, Frau Bethke«, sage ich und halte ihr die Hand hin.»Auf Wiedersehen«, antwortet sie und gibt mir mit abgewandtem Gesicht die Hand.

Adolf bringt mich noch bis zum Bahnhof. Der Wind saust. Ich sehe ihn von der Seite an und denke daran, wie er im Graben immer vor sich hinlächelte, wenn wir vom Frieden sprachen. Was ist nun aus all dem geworden!

Der Zug fährt ab.»Adolf«, sage ich noch rasch aus dem Fenster,»ich verstehe dich ja so gut — du glaubst nicht, wie gut.«

Er geht allein zurück über das Feld zu seinem Hause.

Es läutet zur großen Pause um zehn Uhr. Ich habe eine Stunde Unterricht in der Oberklasse gegeben. Jetzt stürzen die Vierzehnjährigen an mir vorüber ins Freie. Ich beobachte sie vom Fenster aus. In wenigen Sekunden verändern sie sich vollkommen, sie streifen den Zwang der Schule ab und gewinnen die Frische und Unbefangenheit ihres Alters wieder.

Wenn sie in ihren Bänken vor mir sitzen, sind sie nicht echt; sie haben entweder etwas von Duckmäusern und Strebern oder von Heuchlern und Rebellen an sich. Sieben Jahre Unterricht haben es fertiggebracht, sie dazu zu erziehen. Unverbildet, aufrichtig und ahnungslos wie junge Tiere kamen sie von ihren Wiesen, ihren Spielen und Träumen in die Schule — noch galt unter ihnen das einfache Gesetz des Lebendigen —, der Lebendigste, Kraftvollste war der Führer, dem die ändern folgten. Aber mit den Wochenportionen der Bildung wurde ihnen allmählich ein anderes, künstliches Gesetz der Bewertung aufgepfropft: Derjenige, der seine Portionen am bravsten auslöffelte, wurde ausgezeichnet und galt als der Beste. Die ändern hatten ihm nachzueifern. Kein Wunder, daß die Lebendigsten widerstrebten. Aber sie mußten sich fügen; denn der gute Schüler ist nun einmal das Ideal der Schule. Aber was ist das schon für ein Ideal —! Und was ist schon aus den guten Schülern in der Welt geworden! Im Treibhaus der Schule genossen sie ein kurzes Scheindasein — um so sicherer versanken sie dann nachher in Mittelmäßigkeit und subalterne Belanglosigkeit. Die Welt ist nur von schlechten Schülern vorwärtsgebracht worden.

Ich beobachte die Spielenden. Mit kraftvollen, geschmeidigen Bewegungen werden sie angeführt von dem krausköpfigen Dammholt, der mit seiner Energie den ganzen Platz beherrscht. Die Augen funkeln vor Angriffslust und Courage, die Muskeln und Sehnen sind gestrafft, und die ändern gehorchen ihm ohne Zögern. In zehn Minuten jedoch wird aus demselben Kerl, wenn er hier auf der Bank sitzt, ein verstockter, widerspenstiger Bursche, der niemals seine Aufgaben kann und wahrscheinlich Ostern Sitzenbleiben wird. Er wird ein frommes Gesicht machen, wenn ich ihn ansehe, und hinter mir sofort eine Grimasse schneiden, er wird geläufig lügen, wenn ich ihn frage, ob er seinen Aufsatz abgeschrieben hat, und mir rasch gegen die Hose spucken oder mir einen Heftzwecken auf den Stuhl legen, wenn er Gelegenheit dazu hat. Der Primus aber, der jetzt draußen eine klägliche Figur macht, wird hier im Zimmer wachsen, er wird selbstbewußt den Finger heben, wenn Dammholt keine Antwort weiß und ergeben und wütend auf seine Vier wartet. Der Primus weiß alles, und selbst das weiß er. Aber Dammholt, den ich eigentlich bestrafen müßte, ist mir tausendmal lieber als der blasse Musterknabe.

Ich zucke die Achseln. War es denn nicht schon einmal ähnlich so? Hei der Regimentszusammenkunft im Saale von Konersmann? Galt da nicht plötzlich auch der Mann nichts mehr und der Beruf alles, obschon es vorher ganz anders gewesen war? Ich schüttle den Kopf.

Was ist das nur für eine Welt, in die wir da wieder hineingeraten sind. —

Dammholts Stimme gellt über den Platz. Ich denke darüber nach, ob vielleicht eine sehr kameradschaftliche Einstellung des Lehrers zum Schüler weiterführen würde. Mag sein, daß sie das Verhältnis bessern und manches vermeiden könnte — doch im Grunde wäre sie nur eine Täuschung. Ich weiß ja von uns selbst noch: Jugend ist scharfsichtig und unbestechlich. Sie hält zusammen und bildet eine undurchdringliche Front gegen den Erwachsenen. Sie ist nicht sentimental; man kann sich ihr nähern, aber nicht zu ihr hineinkommen. Wer aus dem Paradiese einmal ausgestoßen ist, kann nie zurück. Es gibt ein Gesetz der Jahre. Dammholt würde eine kameradschaftliche Einstellung kaltblütig und mit seinen scharfen Augen zu seinem Vorteil ausnützen. — Vielleicht würde er sogar eine gewisse Anhänglichkeit zeigen; doch das würde ihn nicht hindern, seinen Vorteil wahrzunehmen. Die Erzieher, die mit der Jugend zu fühlen glauben, sind Schwärmer. Jugend will gar nicht verstanden sein; sie will nur so bleiben, wie sie ist. Der Erwachsene, der sich ihr zu aufdringlich nähert, wird ihr ebenso lächerlich, als wenn er Kinderkleidchen anzöge. Wir können mit der Jugend fühlen, aber die Jugend fühlt nicht mit uns. Das ist ihre Rettung.

Die Klingel ertönt. Die Pause ist zu Ende. Dammholt stellt sich zögernd in die Reihe vor der Tür.

Ich schlendere durch das Dorf, der Heide zu. Wolf läuft vor mir her. Plötzlich schießt aus einem Bauernhof eine Dogge heraus und stürzt sich auf ihn. Wolf hat sie nicht kommen sehen. Es gelingt ihr deshalb, ihn im ersten Anlauf umzureißen. Im nächsten Augenblick ist alles ein wüster Knäuel von Staub, umherschlagenden Körpern und rasendem Knurren.

Der Bauer kommt mit einem Knüppel aus dem Hause gelaufen.

«Um Gottes willen, Lehrer«, schreit er von weitem,»ruft Euren Hund! Pluto reißt ihn in Stücke!«

Ich winke ab.»Pluto! Pluto! Aas, verdammtes, hierher!«brüllt er aufgeregt und kommt atemlos heran, um dazwischenzuschlagen. Doch der Staubwirbel fegt mit wüstem Gekläff hundert Meter weiter und ballt sich dort erneut.

«Der ist verloren«, keucht der Bauer und läßt den Knüppel sinken.»Aber ich sage Ihnen gleich, bezahlen tue ich ihn nicht! Sie hätten ihn ja rufen können!«

«Wer ist verloren?«frage ich.

«Ihr Hund«, erwidert der Bauer ergeben.»Das Luder von Dogge hat schon ein Dutzend davon kaltgemacht.«

«Na, bei Wolf wollen wir das erst mal abwarten«, sage ich,»das ist kein gewöhnlicher Schäferhund, mein Lieber. Das ist ein Kriegshund, ein alter Soldat, verstehen Sie!«

Der Staub verzieht sich. Die beiden Hunde sind auf eine Wiese geraten. Ich sehe, wie die Dogge versucht, Wolf herunterzudrücken und ihn am Kreuz zu schnappen. Wenn es ihr gelingt, ist er verloren, denn sie kann ihm glatt die Rückenwirbel zerknacken. Doch wie ein Aal gleitet der Schäferhund einen Zentimeter vor ihrem Fang- über den Boden, wirft sich herum und greift sofort wieder an. Die Dogge knurrt und kläfft — Wolf aber kämpft völlig lautlos.

«Verdammt«, sagt der Bauer.

Die Dogge schüttelt sich, springt zu, schnappt in die Luft, wendet sich wütend um, springt wieder zu und packt abermals vorbei — doch es ist, als wäre sie allein, so wenig sieht man den Schäferhund. Er fliegt wie eine Katze dicht über den Boden, das ist er als Meldehund gewohnt, er schlüpft der Dogge zwischen den Beinen durch und greift von unten an, er umkreist sie, jagt herum, verbeißt sich plötzlich in ihrem Bauch und hält fest.