Ich schiebe mich fort und will zurückschleichen zu unseren Gräben. Aber ich sehe mich noch einmal um — da ist plötzlich der Tote wieder lebendig geworden, er richtet sich auf, als wollte er hinter mir herlaufen. — Ich ziehe die zweite Handgranate ab und werfe sie ihm entgegen. Sie fällt einen Meter neben ihm herunter, rollt aus, liegt — ich zähle, zähle — warum explodiert sie denn nicht? — Der Tote steht jetzt, er bleckt die Zähne, ich werfe die nächste Handgranate — auch sie versagt — jetzt macht der drüben schon ein paar Schritte, auf seinen Stümpfen läuft er, grinsend, die Arme nach mir ausgestreckt — ich werfe die letzte Handgranate — sie fliegt ihm gegen die Brust, er wischt sie fort — da springe ich auf, um wegzurennen, aber die Knie versagen mir, sie sind weich wie Butter, unendlich langsam ziehe ich sie vorwärts, ich klebe am Boden fest, ich zerre, ich werfe mich vorwärts, schon höre ich das Keuchen des Verfolgers, ich reiße mit den Fäusten an meinen nachgebenden Beinen — aber von hinten schließen sich zwei Hände um meinen Nacken, drücken mich zurück, auf den Boden, der Tote kniet auf meiner Brust, er greift die nachschleifenden Wickelgamaschen aus dem Gras und dreht sie mir um den Hals. Ich drücke den Kopf weg, ich spanne alle Muskeln an, ich werfe mich nach rechts, um der Schlinge zu entgehen — da, ein Ruck, ein erstickter Schmerz im Hals, der Tote schleift mich vorwärts, dem Abhang der Kalkgrube zu, er wälzt mich hinunter, ich verliere das Gleichgewicht und versuche, mich festzuhalten, ich rutsche, falle, schreie, falle endlos, schreie, schlage auf, schreie. —
Dunkel bricht in Klumpen unter meinen krallenden Händen, krachend poltert etwas neben mir herunter, ich pralle gegen Steine, Ecken, Eisen, hemmungslos rast das Schreien aus mir heraus, jäh gellend, ich kann nicht aufhören, Rufe dazwischen, Griffe nach meinen Armen, ich stoße sie weg, jemand stolpert über mich, ich erwische ein Gewehr, ertaste eine Deckung, reiße es an die Schulter, drücke ab, immer noch schreiend, dann zuckt es wie ein Messer durch den Knäuel —»Birkholz«— wieder —»Birkholz«— ich springe auf, da kommt Hilfe, ich muß mich durchschlagen, ich reiße mich los, renne, bekomme einen Hieb gegen das Knie, stürze in eine weiche Grube, in Licht, grelles, zuckendes Licht,»Birkholz«—»Birkholz«— nur noch mein Schreien ist spitz im Raum — plötzlich bricht es ab — Vor mir stehen der Bauer und seine Frau. Ich liege halb auf dem Bett, halb auf der Erde, neben mir rappelt der Knecht sich hoch, krampfhaft halte ich einen Spazierstock wie ein Gewehr in der Faust, irgendwo muß ich bluten, dann spüre ich, daß nur der Hund mir die Hand leckt.
«Lehrer«, sagt die Bäuerin zitternd,»was habt Ihr nur?«
Ich begreife nichts.»Wie komme ich denn hierher?«frage ich mit rauher Stimme.
«Aber Lehrer — wacht doch auf — Ihr habt geträumt.«
«Geträumt«, sage ich,»das soll ich geträumt haben?«Und auf einmal lache ich, lache, daß es mich schüttelt, daß es mir wehtut, lache…
Aber plötzlich zerbirst das Lachen in mir.»Es war der englische Hauptmann«, flüsterte ich —»der von damals. —«
Der Knecht reibt sich seinen abgeschürften Arm.»Sie haben geträumt, Lehrer, und sind aus dem Bett gefallen«, sagt er,»Sie hörten ja gar nichts und haben mich fast totgeschlagen. —«
Ich verstehe ihn nicht, ich bin grenzenlos schlapp und elend. Dann sehe ich den Stock in meiner Hand. Ich lege ihn weg und setze mich auf das Bett. Der Hund drängt sich an meine Knie.
«Geben Sie mir ein Glas Wasser, Mutter Schomaker«, sage ich,»und geht nur wieder zu Bett. —«
Aber ich lege mich nicht wieder nieder, sondern bleibe mit einer Decke am Tisch sitzen. Das Licht lasse ich brennen.
So hocke ich lange, still und mit abwesendem Blick, wie nur Soldaten sitzen können, wenn sie allein sind. Nach einiger Zeit werde ich unruhig und habe das Gefühl, als wäre noch jemand im Zimmer. Ich spüre, wie langsam, ohne daß ich mich rühre, wieder Blick und Sehen in meine Augen kommen. Als ich die Lider etwas hebe, bemerke ich, daß ich gerade gegenüber vom Spiegel sitze, der über dem kleinen Waschtisch hängt. Aus seinem etwas welligen Glas heraus blickt mich ein Gesicht mit Schatten und schwarzen Augenhöhlen an. Mein Gesicht. —
Ich stehe auf, nehme den Spiegel herab und stelle ihn in eine Ecke, mit dem Glas zur Wand.
Es wird Morgen. Ich gehe hinüber in meine Klasse. Die Kleinen sitzen mit gefalteten Händen da. In ihren großen Augen ist noch das ganze scheue Erstaunen der Kinderjahre. Sie sehen mich so vertrauensvoll und gläubig an, daß ich es plötzlich wie einen Schlag aufs Herz spüre. —
Hier stehe ich vor euch, einer der hunderttausend Bankrotteure, denen der Krieg jeden Glauben und fast alle Kraft zerschlug. — Hier stehe ich vor euch und empfinde, wieviel lebendiger und daseinsverbundener ihr seid als ich — hier stehe ich vor euch und soll euch nun Lehrer und Führer sein. Was soll ich euch denn lehren? Soll ich euch sagen, daß ihr in zwanzig Jahren ausgetrocknet und verkrüppelt seid, verkümmert in euren freiesten Trieben und unbarmherzig zu Dutzendware gepreßt? Soll ich euch erzählen, daß alle Bildung, alle Kultur und alle Wissenschaft nichts ist als grauenhafter Hohn, solange sich Menschen noch mit Gas, Eisen, Pulver und Feuer im Namen Gottes und der Menschheit bekriegen? Was soll ich euch denn lehren, ihr kleinen Geschöpfe — ihr, die ihr allein rein geblieben seid in diesen furchtbaren Jahren?
Was kann ich euch denn lehren? Soll ich euch sagen, wie man Handgranaten abreißt und gegen Menschen wirft? Soll ich euch zeigen, wie man jemand mit einem Seitengewehr ersticht, mit einem Kolben erschlägt, mit einem Spaten abschlachtet? Soll ich euch vormachen, wie man einen Gewehrlauf gegen ein so unbegreifliches Wunder wie eine atmende Brust, eine pulsierende Lunge, ein lebendiges Herz richtet? Soll ich euch erzählen, was eine Tetanuslähmung, ein zerrissenes Rückenmark, eine abgerissene Schädeldecke ist? Soll ich euch beschreiben, wie herumspritzendes Gehirn, wie zerfetzte Knochen, wie herausquellende Därme aussehen? Soll ich euch vormachen, wie man mit einem Bauchschuß stöhnt, mit einem Lungenschuß röchelt, mit einem Kopfschuß pfeift? Mehr weiß ich nicht! Mehr habe ich nicht gelernt!
Soll ich euch an die grüne und graue Landkarte drüben führen, mit dem Finger darüber fahren und euch sagen, daß hier die Liebe ermordet wurde? Soll ich euch erklären, daß die Bücher, die ihr in Händen haltet, Netze sind, mit denen man eure arglosen Seelen in das Gestrüpp der Phrasen und in die Drahtverhaue der gefälschten Begriffe lockt?
Da stehe ich vor euch, ein Befleckter, ein Schuldiger, und müßte euch bitten: bleibt wie ihr seid und laßt das warme Licht der Kindheit nicht zur Stichflamme des Hasses mißbrauchen! Um eure Stirnen ist noch der Hauch der Unschuld — wie kann ich euch da lehren wollen! Hinter mir jagen noch die blutigen Schatten der Vergangenheit — wie kann ich mich da zwischen euch wagen? Muß ich nicht selbst erst wieder ein Mensch werden?
Ich fühle, wie ein Krampf sich in mir ausbreitet, als würde ich zu Stein und müßte bröckelnd zerfallen. Langsam lasse ich mich in den Stuhl sinken und begreife, daß ich nicht mehr hier bleiben kann. Ich versuche, etwas zu erfassen, aber ich kann es nicht. Erst nach einiger Zeit, die mir endlos erscheint, löst sich die Starre. Ich stehe auf.»Kinder«, sage ich mit Mühe,»ihr könnt gehen. Heute ist schulfrei.«
Die Kleinen sehen mich an, ob ich auch keinen Scherz mache. Ich nicke noch einmal.»Ja, es ist wahr — geht spielen heute — den ganzen Tag — geht spielen in den Wald — oder mit euren Hunden und Katzen — ihr braucht erst morgen wiederzukommen. —«