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Da werfen sie klappernd die Federkästen in die Tornister und drängen zwitschernd und atemlos hinaus.

Ich packe meine Sachen und gehe zum Nachbardorf, um mich von Willy zu verabschieden. Er lehnt in Hemdsärmeln am Fenster und übt auf der Geige.»Alles neu macht der Mai«. Auf dem Tisch steht ein reichhaltiges Essen.

«Mein drittes heute«, erklärt er befriedigt,»ich habe gemerkt, daß ich auf Vorrat fressen kann wie ein Kamel.«

Ich sage ihm, daß ich heute abend wieder abreisen will. Willy ist kein Mann, der lange fragt.»Ich will dir was sagen, Ernst«, meint er nachdenklich,»langweilig ist es hier ja — aber solange ich solches Futter habe«, er zeigt auf den Tisch,»kriegen mich keine zehn Pferde aus dem Pestalozzistall wieder heraus.«

Damit holt er einen Kasten Flaschenbier unter dem Sofa hervor.»Starkstrom«, schmunzelt er und hält das Etikett gegen die Lampe.

Ich sehe ihn lange an.»Mensch, Willy, ich wollte, ich wäre wie du!«sage ich dann.

«Das glaube ich«, schmunzelt er und läßt einen Flaschenverschluß knallen.

Als ich zum Bahnhof gehe, kommen aus dem Nachbarhaus ein paar Mädchen mit verschmierten Mäulchen und wippenden Haarschleifen angelaufen. Sie haben gerade im Garten einen toten Maulwurf begraben und für ihn gebetet. Jetzt knixen sie und halten mir die Hände hin.»Wiedersehen, Herr Lehrer.«

Sechster Teil

I

«Ernst, ich muß mit dir sprechen«, sagt mein Vater.

Ich kann mir schon vorstellen, was kommt. Seit Tagen geht er mit sorgenvoller Miene umher und macht Andeutungen. Aber ich bin ihm bislang immer entwischt, denn ich bin selten zu Hause.

Wir gehen in mein Zimmer. Er setzt sich ins Sofa und sieht bekümmert drein.»Wir machen uns Gedanken um deine Zukunft, Ernst. «Ich hole eine Kiste Zigarren aus dem Bücherbord und biete sie ihm an. Sein Gesicht erhellt sich etwas, denn die Zigarre ist gut — ich habe sie von Karl bekommen, und Karl raucht kein Buchenlaub.

«Hast du wirklich deine Stelle als Lehrer aufgegeben?«fragt er.

Ich nicke.

«Warum hast du das nur getan?«

Ich zucke die Achseln. Wie soll ich ihm das bloß erklären? Wir sind zwei völlig verschiedene Menschen und haben uns nur deshalb bis jetzt ganz gut verstanden, weil wir uns überhaupt nicht verstanden haben.

«Und was soll nun werden?«fragt er weiter.

«Irgend etwas«, sage ich,»das ist doch egal.«

Er blickt mich erschreckt an und beginnt dann von einem guten, geachteten Beruf, von Vorwärtskommen und einem Platz im Leben zu reden. Ich höre ihm gerührt und gelangweilt zu und denke daran, wie sonderbar es ist, daß dieser Mann im Sofa mein Vater ist, der früher über mein Dasein bestimmte. Aber er hat mich nicht schützen können in den Jahren draußen, er konnte mir nicht einmal helfen in der Kaserne, jeder Unteroffizier war dort stärker als er. Ich habe alles allein durchmachen müssen, und es war ganz gleichgültig, ob er existierte oder nicht.

Als er geendet hat, schenke ich ihm einen Kognak ein.»Sieh mal, Vater«, sage ich und setze mich zu ihm,»du magst recht haben. Aber ich habe gelernt, in einer Erdhöhle zu hausen, mit einem Kanten Brot und einer dünnen Suppe. Und wenn mal gerade nicht geschossen wurde, war ich schon zufrieden. Eine alte Baracke erschien mir bereits als Luxus, und ein Strohsack im Ruhequartier war das Paradies. Da mußt du begreifen, daß die Tatsache, daß ich lebe und daß nicht mehr geschossen wird, mir einstweilen genügt. Das bißchen Essen und Trinken, das ich brauche, werde ich wohl zusammenbekommen, und für alles andere habe ich ja mein ganzes Leben lang noch Zeit.«

«Ja, aber«, erwidert er,»das ist doch kein Leben, so ins Blaue hinein…«

«Je nachdem«, sage ich,»ich finde, es ist kein Leben, wenn ich später einmal sagen kann, daß ich dreißig Jahre lang täglich in dasselbe Schulzimmer oder dasselbe Büro gegangen bin.«

Verwundert antwortete er:»Ich gehe jetzt seit zwanzig Jahren zur Kartonagenfabrik und habe es immerhin dazu gebracht, daß ich selbständiger Meister bin.«

«Ich will es ja zu nichts bringen, Vater, ich will nur leben.«

«Ich habe auch rechtschaffen gelebt«, sagt er mit einem Anflug von Stolz,»ich bin nicht umsonst zum Mitglied der Handwerkskammer gewählt worden.«

«Sei froh, daß du es so einfach gehabt hast«, entgegne ich.

«Aber du mußt doch etwas werden«, klagt er.

«Ich kann vorläufig im Geschäft eines Kriegskameraden arbeiten, er hat es mir angeboten«, sage ich, um ihn zu beruhigen,»da verdiene ich soviel, wie ich brauche.«

Er schüttelt den Kopf.»Und dafür gibst du die schöne Beamtenstellung auf?«

«Ich habe schon oft was aufgeben müssen, Vater.«

Er zieht bekümmert an seiner Zigarre.»Und du warst sogar pensionsberechtigt.«

«Ach«, sage ich,»wer wird denn von uns Soldaten sechzig Jahre alt? Wir haben soviel in den Knochen, das sich erst später zeigen wird — wir schrammen bestimmt früher ab. «Ich kann mir mit dem besten Willen nicht vorstellen, daß ich sechzig Jahre alt werde. Ich habe zu viele Menschen mit zwanzig sterben sehen. Nachdenklich rauche ich und betrachte meinen Vater. Ich empfinde immer noch, daß er mein Vater ist — doch er ist außerdem noch ein lieber, älterer Mann, vorsichtig und pedantisch, dessen Ansichten für mich keinerlei Bedeutung mehr haben. Ich kann mir gut vorstellen, wie er im Felde gewesen wäre; man hätte immer etwas auf ihn aufpassen müssen, und Unteroffizier wäre er sicher nie geworden.

Nachmittags besuche ich Ludwig. Er sitzt unter einem Haufen Broschüren und Bücher. Ich möchte gern mit ihm über vieles reden, was mir am Herzen liegt, denn ich habe das Gefühl, daß er mir vielleicht einen Weg zeigen kann. Aber er ist heute selber unruhig und erregt.

Wir reden eine Weile belangloses Zeug hin und her, dann sagt er:»Ich muß jetzt zum Arzt.«

«Noch immer wegen der Ruhr?«frage ich.

«Nein — wegen was anderem.«

«Was hast du denn noch, Ludwig?«frage ich verwundert. Er schweigt eine Weile. Seine Lippen zittern. Dann sagt er:

«Ich weiß es nicht.«

«Soll ich mitgehen? Ich habe sowieso nichts vor.«

Er sucht nach seiner Mütze.»Ja, komm nur mit.«

Unterwegs sieht er mich manchmal verstohlen von der Seite an. Er ist seltsam gedrückt und schweigsam. Wir biegen in die Lindenstraße und gehen in ein Haus, das einen kleinen, trostlosen Vorgarten mit Sträuchern hat. Ich lese das weiße Emailleschild an der Tür: Dr. med. Friedrich Schultz, Spezialarzt für Haut-, Harn- und Geschlechtskrankheiten, und bleibe stehen.»Was ist denn los, Ludwig?«

Er sicht mich blaß an.»Noch nichts, Ernst. Hab da mal so ein Geschwür gehabt. Und jetzt ist was wiedergekommen.«

«Wenn's weiter nichts ist, Ludwig«, sage ich erleichtert,»was habe ich schon für Furunkel gehabt! Wie Kinderköppe. Das kommt von dem Ersatzfraß.«

Wir klingeln. Eine Schwester in weißer Tracht macht uns auf. Wir sind beide ungeheuer verlegen und gehen mit roten Köpfen ins Wartezimmer. Dort sind wir gottlob allein. Ein Stoß Hefte von der» Woche «liegt auf dem Tisch. Wir blättern darin. Sie sind ziemlich alt. Man ist da gerade beim Frieden von Brest-Litowsk.

Der Arzt kommt herein. Seine Brille funkelt. Die Tür zum Sprechzimmer bleibt hinter ihm halboffen stehen. Ein Stuhl aus Nickelröhren und Leder ist darin zu sehen, beklemmend praktisch und peinlich.

Komisch, daß so viele Ärzte eine Vorliebe haben, die Patienten wie kleine Kinder zu behandeln. Bei Zahnklempnern gehört das ja direkt zum Studium, aber auch diese Sorte hier scheint so zu sein.

«Na, Herr Breyer«, schäkert die Brillenschlange,»ein bißchen befreunden müssen wir uns ja nun demnächst.«

Ludwig steht wie ein Gespenst und würgt.»Ist es.. «