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Der Arzt nickt aufmunternd.»Ja, die Blutprobe ist zurück. Positiv. Jetzt werden wir dem Gesindel mal kräftig zuleibe gehen.«

«Positiv«, stammelt Ludwig,»daß heißt also…«

«Ja«, sagt der Arzt,»wir müssen eine kleine Kur machen.«

«Das heißt also, daß ich Syphilis habe?«

«Ja.«

Ein Brummer summt durch das Zimmer und bumst gegen das Fenster. Die Zeit stockt. Quallig klebt die Luft zwischen den Wänden. Die Welt hat sich verändert. Eine furchtbare Angst ist zu einer furchtbaren Gewißheit geworden.

«Kann es nicht ein Irrtum sein?«fragt Ludwig,»kann man nicht eine zweite Blutprobe machen?«

Der Arzt schüttelt den Kopf.»Es ist besser, bald mit der Kur anzufangen. Das Stadium ist sekundär.«

Ludwig schluckt.»Ist es heilbar?«

Der Arzt belebt sich. Sein Gesicht ist geradezu fröhlich vor Vertrauen.»Aber durchaus. Hier diese Röhrchen, ein halbes Jahr zunächst einmal eingespritzt. Dann werden wir weitersehen. Vielleicht ist dann schon kaum noch etwas nötig. Lues ist heute heilbar.«

Lues — scheußliches Wort, das klingt, als wäre es eine dünne, schwarze Schlange.

«Haben Sie es im Felde bekommen?«fragt der Arzt. Ludwig nickt.»Warum haben Sie es nicht gleich behandeln lassen?«

«Ich habe nicht gewußt, was es war. Man hat uns früher ja nie etwas von diesen Dingen gesagt. Es kam auch erst viel später und sah harmlos aus. Dann ging es von selbst wieder weg.«

Der Arzt schüttelt den Kopf.»Ja, das ist die Kehrseite der Medaille«, sagt er leichthin.

Ich möchte ihm am liebsten einen Stuhl an den Schädel knallen. Was ahnt der denn davon, wie das ist, wenn man drei Tage Urlaub nach Brüssel hat und aus Trichtern, Kotzen, Dreck und Blut mit dem Abendzug ankommt in einer Stadt mit Straßen, Laternen, Lichtern, Läden und Frauen, mit richtigen Hotelzimmern und weißen Badewannen, in denen man planschen und den Schmutz abscheuern kann, mit leiser Musik, Terrassen und kühlem, schwerem Wein, was ahnt der denn von dem Zauber, den der blaue Dunst der Dämmerung schon hat in so einem schmalen Augenblick zwischen Grauen und Grauen; wie ein Riß in den Wolken ist das, wie ein wilder Aufschrei des Lebens in der kurzen Pause zwischen Tod und Tod. Wer weiß, ob man nicht in ein paar Tagen schon im Drahtverhau mit zerrissenen Knochen hängt und brüllt, verdurstet, verreckt. — Noch einen Schluck von dem schweren Wein, noch einen Atemzug und einen Blick in diese unwirkliche Welt der gleitenden Farben, der Träume, der Frauen und des erregenden Flüsterns, der Worte, unter denen das Blut wie eine schwarze Fontäne wird, unter denen Jahre des Drecks, der Wut und der Holfnungslosigkeit zerschmelzen und zu einem süßen, singenden Wirbel von Erinnerung und Hoffnung werden.

Morgen rast der Tod wieder heran mit Geschützen, Handgranaten, Flammenwerfern, Blut und Vernichtung — aber heute noch ist diese sanfte Haut da, sie duftet und ruft wie das Leben selbst, sie lockt unfaßbar, verwirrende Schatten im Nacken, weiche Arme, es knistert und blitzt und stürzt und strömt, der Himmel brennt. — Wer denkt da noch daran, daß in diesem Flüstern und Locken, diesem Duft, dieser Haut das andere liegen kann, lauernd, verborgen, schleichend, wartend: Lues — wer weiß es, und wer will es wissen, wer denkt überhaupt weiter als über das Heute hinaus — morgen ist vielleicht alles schon vorbei — verdammter Krieg, der uns lehrte, nur den Augenblick zu sehen und zu nehmen.

«Und nun?«fragt Ludwig.

«So bald wie möglich anfangen.«

«Dann jetzt«, sagt Ludwig ruhig. Er geht mit dem Arzt in das Sprechzimmer.

Ich bleibe im Wartezimmer und zerreiße ein paar Hefte von der» Woche«, in denen es nur so flimmert von Paraden, Siegen und markigen Worten kriegsbegeisterter Pastöre.

Ludwig kommt zurück. Ich flüstere ihm zu:»Geh noch einmal zu einem anderen Arzt, der hier kann bestimmt nichts. Keine Ahnung hat der. «Er macht eine müde Geste, und wir gehen schweigend die Treppen hinunter. Unten sagt er plötzlich, mit abgewandtem Gesicht:»Auf Wiedersehen dann. —«

Ich sehe auf. Er lehnt am Geländer und hält krampfhaft die Hände in den Taschen.

«Was ist denn?«frage ich erschrocken.

«Ich will jetzt gehen«, antwortet er.

«Dann gib mir wenigstens die Pfote«, sage ich verwundert. Mit zuckendem Mund erwidert er:»Magst mich doch wohl nicht mehr anfassen, jetzt. —«

Scheu und schmal steht er am Geländer, in derselben Haltung, in der er immer an der Grabenböschung lehnte, mit traurigem Gesicht und gesenkten Augen. — »Ach Ludwig, Ludwig, was machen sie hier bloß mit uns — ich dich nicht anfassen, du Kaffer du, du dummes Luder, da faß ich dich an, hundertmal faß ich dich an — «, es stößt mich nur so, verflucht, jetzt heule ich sogar, ich Esel, und nehme ihn um die Schulter und presse ihn an mich und fühle, wie er bebt —,»ach Ludwig, das ist ja alles Quatsch, und vielleicht habe ich sie sogar auch, nun sei doch stille, das kriegt die Brillenschlange da oben ja schon alles wieder zurecht«— und er bebt und bebt, und ich halte ihn fest.

II

Für den Nachmittag sind in der Stadt Demonstrationen angesagt. Seit Monaten steigen überall die Preise, und die Not ist größer als im Krieg geworden. Die Löhne reichen nicht aus, um das Notwendigste zu beschaffen, und selbst wenn man Geld hat, kann man oft nicht einmal etwas dafür kaufen. Aber immer mehr Likörstuben und Tanzlokale erstehen, und immer stärker wird das Schiebertum und der Betrug.

Vereinzelte Gruppen von streikenden Arbeitern ziehen durch die Straße. Ab und zu entsteht ein Auflauf. Es heißt, daß Militär in den Kasernen zusammengezogen worden sein soll. Aber davon ist noch nichts zu sehen.

Hoch- und Niederrufe erschallen. An einer Straßenecke redet jemand. Doch dann schweigt plötzlich alles. —

Langsam kommt ein Zug Menschen heran in den verblichenen Uniformen der Front. Er ist gruppenweise formiert, immer zu vieren nebeneinander. Große Schilder werden vorangetragen:»Wo bleibt der Dank des Vaterlandes?«—»Die Kriegskrüppel hungern.«

Es sind Einarmige, die diese Schilder tragen. Sie schauen sich oft um, ob der Zug auch richtig hinter ihnen herkommt. Denn sie sind die schnellsten.

Ihnen folgen Leute mit Schäferhunden an kurzen Lederriemen. Die Tiere tragen das rote Blindenkreuz auf dem Geschirr. Aufmerksam gehen sie neben ihren Herren her. Stockt der Zug, so setzen sie sich sofort, und die Blinden bleiben stehen. Manchmal stürzen Hunde von der Straße kläffend und schweifwedelnd in den Zug hinein, um mit ihnen zu spielen und zu balgen. Sie aber wenden nur den Kopf und kümmern sich nicht um das Schnuppern und Bellen. Wohl sind ihre Ohren noch straff, aufmerksam gespitzt, und lebhaft die Augen; aber sie gehen, als wollten sie nie mehr laufen und springen, als begriffen sie, wofür sie da sind. Sie unterscheiden sich von ihren Genossen wie barmherzige Schwestern von fröhlichen Ladenmädchen. Die ändern Hunde versuchen es auch nicht lange; nach wenigen Minuten lassen sie ab und trollen sich so eilig, daß es aussieht, als flüchteten sie vor etwas. Nur ein mächtiger Fleischerhund bleibt stehen und bellt, mit breit auseinandergestellten Vorderbeinen, langsam, tief und klagend, bis der Zug an ihm vorüber ist. —

Es ist sonderbar — diese Menschen sind alle blindgeschossen; sie bewegen sich deshalb anders als Blindgeborene. Sie sind ungestümer und gleichzeitig vorsichtiger in den Gesten, die noch nicht die Sicherheit vieler dunkler Jahre haben. In ihnen lebt noch die Erinnerung an Farben, Himmel, Erde und Dämmerung. Sie bewegen sich noch so, als ob sie Augen hätten, unwillkürlich heben und wenden sie die Köpfe, um den anzusehen, der mit ihnen spricht. Manche tragen schwarze Klappen oder Binden auf den Augen, die meisten aber gehen ohne sie, als ob sie dadurch den Farben und dem Licht noch ein wenig näher wären. Das blasse Abendrot schimmert hinter ihren gesenkten Köpfen. In den Schaufenstern beginnen die ersten Lampen zu brennen. Sie aber spüren kaum die milde und zärtliche Luft des Abends an ihren Stirnen — mit ihren groben Stiefeln gehen sie langsam durch die ewige Dunkelheit, die um sie wie eine Wolke gebreitet ist, und zähe und trübe klettern ihre Gedanken die geringen Ziffern auf und ab, die für sie Brot, Versorgung und Leben sein sollen und doch nicht sein können. Träge rühren sich Hunger und Not in den erloschenen Kammern ihres Gehirns. Hilflos und voll dumpfer Angst fühlen sie ihre Nähe und können sie doch nicht sehen und nichts anderes gegen sie tun, als gemeinsam langsam durch die Straßen zu gehen und die toten Gesichter aus der Dunkelheit ins Licht zu heben mit der stummen Bitte an die ändern, die noch sehen können, doch zu sehen.