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Hinter den Blinden kommen die Einäugigen, die zerfetzten Gesichter der Kopfverletzten, schiefe, wulstige Münder, Köpfe ohne Nasen und ohne Unterkiefer, einzige große rote Narben die ganzen Gesichter, mit ein paar Löchern darin, wo früher Mund und Nase waren. Über dieser Verwüstung aber stille, fragende, traurige Menschenaugen.

Ihnen folgen die langen Reihen der Beinamputierten. Viele haben schon die künstlichen Glieder, die schräg vorwärtsschnellen beim Gehen und klirrend auf dem Pflaster aufsetzen, als sei auch der ganze Mensch künstlich, aus Eisen mit Scharnieren.

Dann kommen die Schüttler. Ihre Hände, ihre Köpfe, ihre Anzüge, ihre Körper beben, als zitterten sie immer noch vor Grauen. Sie haben keine Gewalt mehr darüber, ihr Wille ist ausgelöscht, die Muskeln und Nerven haben sich gegen das Gehirn empört, die Augen sind stumpf und ohnmächtig geworden.

Einäugige und Einarmige schieben in kleinen Korbwagen mit Wachstuchdecken die Schwerverletzten, die nur noch im Rollstuhl leben können. Zwischen ihnen ziehen einige einen flachen Handwagen, wie ihn Tischler zum Transportieren von Bettstellen und Särgen verwenden. Darauf sitzt ein Rumpf. Die Beine fehlen vollständig. Es ist der Oberkörper eines kräftigen Mannes, sonst nichts.

Er hat einen stämmigen Nacken und ein breites, braves Gesicht mit einem starken Schnurrbart. Er könnte Möbelpacker gewesen sein. Neben sich hat er ein Schild stehen, mit schiefen Buchstaben, die er wohl selbst gemalt hat.»Ich möchte auch lieber gehen, Kamerad. «Mit ernstem Gesicht sitzt der Mann da; nur manchmal stützt er die Arme auf und schwingt sich ein Stück weiter auf dem Wagen, um anders zu sitzen.

Der Zug zieht langsam durch die Straßen. Wo er vorbeikommt, wird es still. Einmal muß er lange halten, an der Ecke der Hakenstraße. Dort wird ein großes neues Tanzlokal errichtet, und die Straße ist von Sandhaufen, Zementwagen und Gerüsten versperrt. Zwischen den Gerüsten über dem Türeingang flammt bereits in roter Leuchtschrift der Name: Astoria, Diele und Likörstube. Der Wagen mit dem Rumpf steht gerade darunter und wartet, bis ein paar eiserne Stangen fortgebracht werden. Die dunkle Glut des Schildes übergießt ihn tmd färbt das Gesicht, das schweigend zusieht, düsterrot, als schwölle es zu einer furchtbaren Leidenschaft an und würde gleich als ein entsetzlicher Schrei zerspringen.

Dann aber geht der Zug weiter, und es ist wieder nur das Gesicht des Möbelpackers, blaß vom Lazarett, im blassen Abend, das dankbar lächelt, als ein Kamerad ihm eine Zigarette zwischen die Lippen schiebt. Still ziehen die Gruppen durch die Straßen, ohne Rufe, ohne Empörung, gefaßt, nur eine Klage, keine Anklage — sie wissen, wer nicht mehr schießen kann, hat nicht allzuviel Hilfe zu erwarten. Sie werden zum Rathaus gehen und eine Weile dort stehen, irgendein Sekretär wird etwas zu ihnen sprechen, dann werden sie sich auf- lösen und einzeln in ihre Zimmer zurückkehren, in ihre engen Wohnungen, zu ihren blassen Kindern und der grauen Not, ohne viel Hoffnung — Gefangene des Schicksals, das andere für sie entfachten. —

Je später es wird, desto unruhiger wird die Stadt. Ich gehe mit Albert durch die Straßen. An allen Ecken stehen Gruppen von Menschen. Gerüchte schwirren umher. Das Militär soll bereits mit einem Zug demonstrierender Arbeiter zusammengestoßen sein.

Aus der Gegend der Marienkirche flattern plötzlich Gewehrschüsse auf; erst vereinzelt, dann eine ganze Salve. Albert und ich sehen uns an; dann gehen wir ohne ein Wort los, der Richtung der Schüsse nach.

Immer mehr Leute kommen uns entgegengelaufen.»Holt Waffen, die Aasbande schießt!«schreien sie. Wir gehen schneller. Wir winden uns zwischen den Gruppen durch, wir schieben uns weiter, jetzt laufen wir schon — eine harte, gefährliche Erregung treibt uns vorwärts. Wir keuchen. Das Knattern verstärkt sich.»Ludwig!«rufe ich.

Er rennt neben uns. Seine Lippen sind zusammengepreßt, die Kieferknochen stehen vor, die Augen sind kalt und gespannt — er hat das Gesicht des Schützengrabens wieder. Albert auch. Ich auch. Wir laufen hinter den Gewehrschüssen her wie hinter einem unheimlich zerrenden Signal.

Schreiend weicht vor uns die Menge zurück. Wir wühlen uns hindurch. Frauen halten sich die Schürzen vor die Augen und stürzen fort. Ein Gebrüll der Wut steigt auf. Man schleppt einen Verwundeten weg.

Wir kommen zum Marktplatz. Dort hat sich die Reichswehr am Rathaus festgesetzt. Fahl blinken die Stahlhelme. Vor der Freitreppe steht ein schußfertiges Maschinengewehr. Der Platz ist leer — nur in den Straßen, die darauf münden, stauen sich die Menschen. Es wäre Wahnsinn, weiter vorzugehen. Das M. G. beherrscht den Platz.

Aber einer geht vor, ganz allein. Hinter ihm kocht die Masse aus den Straßenschläuchen hervor, brodelt um die Häuser herum und schiebt sich schwarz zusammen.

Der Mann aber ist weit voraus. In der Mitte des Platzes tritt er aus dem Schatten, den die Kirche wirft, in den Mondschein hinaus. Eine klare, scharfe Stimme ruft:»Zurück!«

Der Mann hebt die Hände. Der Mond ist so stark, daß man im dunklen Loch des Mundes weiß die Zähne blitzen sieht, als der Mann zu sprechen beginnt.»Kameraden! — «Es wird still.

Seine Stimme ist allein zwischen der Kirche, dem Massiv des Rathauses und den Schatten, sie ist allein auf dem Platze, eine flatternde Taube.»Kameraden, legt die Waffen fort! Wollt ihr auf eure Brüder schießen? Legt die Waffen fort und kommt zu uns!«Nie war der Mond so hell. Wie Kreide sind die Uniformen an der Rathaustreppe. Die Fenster schimmern. Die bestrahlte Hälfte des Kirchturms ist ein Spiegel aus grüner Seide. Die steinernen Ritter am Tor springen mit Helmen und Visieren flimmernd aus der Schattenwand.

«Zurück, oder es wird geschossen!«kommt kalt der Befehl von vorhin. Ich blicke mich nach Ludwig und Albert um. Das war unser Kompanieführer! Das war die Stimme Heels! Eine würgende Spannung erfaßt mich, als müßte ich einer Hinrichtung zusehen. Ich weiß: Heel wird schießen lassen.

Die dunkle Menschenmasse bewegt sich im Schatten der Häuser, sie schwankt und murmelt. Eine Ewigkeit vergeht. Dann lösen sich zwei Soldaten mit Gewehren von der Treppe und gehen auf den einzelnen in der Mitte los. Es scheint unendlich lange zu dauern, bis sie heran sind, sie scheinen in grauem Morast auf der Stelle zu treten, glitzernde Stoffpuppen mit schußfertig gesenkten Gewehren. Der Mann erwartet sie ruhig. Als sie heran sind, sagt er wieder:»Kameraden.. «

Sie greifen ihm unter die Arme und reißen ihn vorwärts. Der Mann wehrt sich nicht. Sie zerren ihn so schnell weiter, daß er stolpert. Da gellen Schreie von hinten, die Masse gerät in Bewegung, eine Straße geht langsam, unregelmäßig vor. Die helle Stimme kommandiert:»Schnell zurück mit ihm! Ich lasse feuern!«Eine Schrecksalve knattert in die Luft. Der Mann reißt sich plötzlich los, aber er rettet sich nicht, er rennt schräg auf das Maschinengewehr los.»Nicht schießen, Kameraden!«

Noch ist nichts passiert, aber als die Menge den Mann ohne Waffen weiterlaufen sieht, rückt sie ebenfalls wieder vor. Sie wogt in einem schmalen Ausläufer an der Kirche entlang. Im nächsten Augenblick fliegt ein Kommando über den Platz, donnernd bricht sich das Tack- tack des Maschinengewehrs in vielfachem Echo von den Häusern, und pfeifend und splitternd schlagen die Kugeln auf das Pflaster.