im Halse ein schwarzer Schrei hoch, ein letzter Gedanke wurde aus dem Hirn in das schwindende Bewußtsein gespült: Angst, Rettung, Abbinden — er versuchte aufzutaumeln, die Hand hochzureißen — der Körper zuckte, aber er war schon zu schwach. Es kreiste und kreiste, dann schwand es, und der riesige Vogel mit den dunklen Fittichen kam sehr leise mit langsamen Flügelschlägen und wehte sie lautlos über ihm zusammen.
Eine Hand schiebt mich fort. Menschen sind wieder da, sie fassen Ludwig an, ich reiße den ersten weg, niemand soll ihn anrühren, aber dann ist sein Gesicht mit einmal sehr hell und kalt vor mir, verändert, streng, fremd — ich erkenne ihn nicht mehr und taumele zurück, hinaus.
Ich weiß nicht, wie ich in mein Zimmer gekommen bin. Mein Kopf ist leer, und kraftlos liegen meine Arme auf den Lehnen des Stuhles. Ludwig, ich will nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Was soll ich denn noch hier? Wir gehören ja alle nicht mehr hierher. Entwurzeit, verbrannt, müde — warum bist du allein weggegangen? Ich stehe auf. Meine Hände glühen. Meine Augen brennen. Ich fühle, daß ich Fieber habe. Meine Gedanken verwirren sich. Ich weiß nicht mehr, was ich tue.»Holt mich doch«, flüstere ich,»holt mich doch auch!«
Die Zähne zittern mir vor Frost. Meine Hände sind feucht. Ich taumele vorwärts. Große schwarze Kreise flirren mir vor den Augen. Plötzlich erstarre ich. Ging da nicht eine Tür? Klinkte nicht ein Fenster? Ein Schauer durchfährt mich. Durch die offene Tür meines Zimmers sehe ich im Mondlicht neben der Geige an der Wand meinen alten Waffenrock hängen. Ich gehe vorsichtig darauf los, auf Zehenspitzen, damit er nichts merkt, ich schleiche auf diesen grauen Rock zu, der alles zerschlagen hat, unsere Jugend und unser Leben — ich reiße ihn herunter, ich will ihn wegwerfen, aber plötzlich streife ich ihn über, ich ziehe ihn an, ich fühle, wie er durch meine Haut Besitz von mir ergreift, ich fröstle, das Herz schlägt mir rasend hoch im Halse — da zerreißt ein Ton klingend die Stille, ich fahre auf und wende mich um, ich erschrecke, und voll Entsetzen presse ich mich gegen die Wand. —
Denn im fahlen Licht der offenen Tür steht ein Schatten. Er schwankt und weht, er kommt näher und winkt, eine Gestalt formt sich, ein Gesicht mit dunklen Augenhöhlen, zwischen denen ein breiter Riß klafft, ein Mund, der tonlos spricht — ist das nicht —?»Walter — «, flüstere ich, Walter Willenbrock, gefallen im August siebzehn bei Paschendaele — bin ich denn verrückt? träume ich? bin ich krank? — aber hinter ihm schiebt sich schon ein anderer herein, bleich, verkrümmt, gebeugt; Friedrich Tomberge, dem bei Soissons ein Splitter den Rücken zerschmetterte, als er auf den Stufen des Unterstandes hockte. — Und nun drängen sie herein, mit toten Augen, grau und gespenstisch, eine Schar von Schatten, sie sind wiedergekommen und füllen das Zimmer: Franz Kemmerich, mit achtzehn Jahren amputiert und drei Tage später gestorben. Stanislaus Katczinsky, mit schleifenden Füßen und gesenktem Kopf, aus dem dunkel ein dünner Faden sickert — Gerhard Feldkamp, zerrissen von einer Mine bei Ypern, Paul Bäumer, gefallen im Oktober 1918, Heinrich Weßling, Anton Heinzmann, Haie Westhus, Otto Matthes, Franz Wagner — Schatten, Schatten, ein langer Zug, eine endlose Reihe — Sie wehen herein, sie hocken auf den Büchern, sie klettern am Fenster hoch, sie füllen das Zimmer. —
Aber plötzlich zerbricht das Grauen und das Staunen in mir — denn langsam hat sich ein stärkerer Schatten erhoben, er kriecht durch die Tür, die Arme aufgestemmt, er wird lebendig, Knochen wachsen hinein, ein Körper schleift hinterher, kreidig leuchten Zähne aus dem schwarzen Gesicht, jetzt funkeln auch schon Augen in den Höhlen — aufgeschreckt wie ein Seehund schleicht er herein, auf mich zu — der englische Hauptmann — hinter ihm schleifen raschelnd die Wickelgamaschen. Mit einem weichen Ruck wirft er sich hoch und krallt die Hände nach mir. — »Ludwig! Ludwig!«schreie ich,»hilf mir, Ludwig!«
Ich packe in die Bücherhaufen und werfe sie den Händen entgegen,»Handgranate, Ludwig!«stöhne ich, reiße das Aquarium vom Ständer und schleudere es in die Tür, krachend zersplittert es — aber er grinst nur und kommt näher, ich schmeiße den Schmetterlingskasten hinterher, die Geige, ich greife einen Stuhl und schlage auf das Grinsen ein, ich schreie» Ludwig! Ludwig!«, ich stürze auf ihn los, ich breche durch die Tür, der Stuhl kracht, ich rase davon, Rufe hinter mir, angstvolle Rufe, aber stärker, näher das jappende Keuchen, er jagt hinter mir her, ich stürme die Treppen hinunter — er poltert hinter mir, ich erreiche die Straße, ich spüre seinen gierigen Atem im Genick, ich renne, die Häuser schwanken.»Hilfe! Hilfe!«Plätze, Bäume, eine Kralle auf meiner Schulter, er holt mich ein, ich brülle, heule, stolpere, Uniformen, Fäuste, Toben, Blitze und das dumpfe Donnern der weichen Beile, die mich zu Boden schlagen! —
Siebenter Teil
I
Sind Jahre vergangen? Oder waren es nur Wochen? Wie ein Nebel, wie ein fernes Gewitter hängt die Vergangenheit am Horizont. Ich bin lange krank gewesen, und immer war das besorgte Gesicht meiner Mutter da, wenn das Fieber einmal wich. Dann aber kam eine große Müdigkeit, die alle Härte wegnahm, ein waches Schlafen, in dem alle Gedanken sich auflösten, eine matte Hingabe an das leise Singen des Blutes und die Wärme der Sonne. —
Die Wiesen leuchten im Glanz des Spätsommers. In Wiesen liegen — die Halme sind höher als das Gesicht, sie biegen sich, sie sind die Welt, nichts ist mehr da als sanftes Schwanken im Rhythmus des Windes. An den Stellen, wo das Gras allein wächst, hat der Wind einen leise sirrenden Ton, wie eine Sense von weither — da, wo der Sauerampfer steht, ist sein Ton dunkler und tiefer. Man muß lange ruhig sein und lauschen, um es zu hören. Dann aber wird die Stille lebendig. Winzige Fliegen mit schwarzen, rotgepunkteten Flügeln sitzen dicht beisammen auf den Rispen des Sauerampfers und schwanken mit den Stengeln hin und her. Hummeln summen wie kleine Flugzeuge über den Klee, und ein Marienkäferchen klettert einsam und beharrlich zur höchsten Spitze eines Hirtentäschelkrautes hinauf.
Eine Ameise erreicht mein Handgelenk und verschwindet im Tunnel meines Rockärmels. Sie schleppt ein Stück trockenes Gras, das viel länger ist als sie, hinter sich her. Ich spüre den leisen Reiz an meiner Haut und weiß nicht: ist es die Ameise oder das Grasstückchen, das diesen zarten Streifen Leben an meinem Arm entlangzieht und kleine Schauer auslöst? Dann aber weht der Wind in den Ärmel, und ich empfinde: alles Streicheln der Liebe muß grob sein gegen diesen Hauch auf der Haut.
Schmetterlinge taumeln heran, so sehr dem Wind hingegeben, als schwämmen sie auf ihm, weiße und goldene Segel der zärtlichen Luft. Sie verweilen an den Blüten, und plötzlich, als ich wieder die Augen liebe, sehe ich zwei still auf meiner Brust sitzen, einer wie ein gelbes Blatt mit roten Punkten, der andere ausgebreitet mit violetten Pfauenaugen auf tiefdunklem Samtbraun. Orden des Sommers. Ich atme sehr leise und langsam, dennoch bewegt mein Atem ihre Flügel — aber sie bleiben bei mir. Der helle Himmel schwebt hinter den Gräsern, und eine Libelle steht mit schwirrenden Schwingen über meinen Schuhen. Weiße Marienfäden, Spinngewebe, schimmernde Altweibersommer wehen in der Luft. Sie hängen an den Stengeln und Blättern, der Wind treibt sie heran, sie hängen über meinen Händen, meinem Anzug, sie legen sich auf mein Gesicht, über meine Augen, sie decken mich zu. Mein Körper, eben noch mein Körper, geht über in die Wiese. Seine Grenzen verschwimmen, er ist nicht mehr abgesondert, das Licht löst seine Konturen auf, und an den Rändern beginnt er undeutlich zu werden.