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— Und damals — damals, als wir rausgingen, was war das für ein Wille und ein Sturm!«— Er wirft die Zigarette weg.»Verdammt, wo ist das alles geblieben!«Dann sagt er nach einer Weile leise:»Das möchte ich noch wissen, Ernst — wie so etwas daraus werden konnte. —«

Wir stehen auf und gehen zwischen den Platanen entlang dem Ausgang zu. Die Sonne spielt in den Blättern und flirrt über unsere Gesichter. Es ist alles so unwirklich — das, was wir sprechen und die weiche warme Luft des Spätsommers, die Amseln und der kalte Hauch der Erinnerung.

«Was machst du denn jetzt, Georg?«frage ich.

Er köpft im Weitergehen mit seinem Spazierstock die wolligen Schöpfe der Disteln.»Ich habe mir alles angesehen, Ernst — Berufe, Ideale, Politik —, aber ich passe in diesen Betrieb nicht hinein. Was ist da schon — überall Schieberei, Mißtrauen, Gleichgültigkeit und grenzenloser Egoismus. —«

Ich bin etwas erschöpft vom Gehen, und wir setzen uns.

Die Türme der Stadt schimmern grün, die Dächer rauchen, und silbern zieht der Dampf aus den Schornsteinen. Georg deutet hinunter:»Wie Spinnen lauern sie da in ihren Büros, ihren Läden, ihren Berufen, jeder bereit, den anderen auszusaugen. Und was hängt noch sonst alles über ihnen — Familien, Vereine, Behörden, Gesetze, Staat! Ein Spinnennetz über dem anderen! Gewiß, man kann das Leben nennen und stolz darauf sein, vierzig Jahre darunter herum- z.ukriechen. Aber ich habe im Felde gelernt, daß Zeit für das Leben kein Maßstab ist. Wozu soll ich also vierzig Jahre absteigen? Jahre

lang habe ich alles auf eine Karte gesetzt, und der Einsatz war immer das Leben — jetzt kann ich nicht um Pfennige und kleine Fortschritte spielen.«

«Du warst im letzten Jahr nicht mehr im Graben, Georg«, sage ich,»bei den Fliegern mag das anders gewesen sein. Wir aber haben oft monatelang keinen einzigen Feind gesehen, wir waren nur Kanonenfutter. Da gab es nichts einzusetzen — da gab es nur Warten, bis man seinen Schuß kriegte.«

«Ich spreche ja nicht vom Kriege, Ernst — ich spreche von der Jugend und von der Kameradschaft. —«

«Ja, das ist vorbei«, sage ich.

«Wir haben wie im Treibhaus gelebt«, sagt Georg nachdenklich.»Heute sind wir alte Leute. Aber es ist gut, wenn man Klarheit hat. Ich bedaure nichts. Ich schließe nur ab. Alle Wege sind mir verstellt. Es bliebe nur Vegetieren. Aber das will ich nicht. Ich will frei bleiben.«»Ach, Georg«, rufe ich,»was du sagst ist ja ein Ende! Es muß aber doch auch für uns noch einen Anfang geben! Ich habe es heute gespürt. Ludwig wußte ihn, aber er war zu krank. —«

Er legt mir den Arm um die Schultern.»Ja, ja — werde nur nützlich, Ernst. —«

Ich lehne mich an ihn.»Wenn du es sagst, klingt es häßlich und fettig. Aber es muß dahinter noch eine Kameradschaft sein, von der wir jetzt noch nichts wissen.«

Ich möchte ihm gern etwas von dem sagen, was ich vorhin auf der Wiese empfunden habe. Aber ich kann es nicht recht in Worte fassen. Wir sitzen schweigend nebeneinander.»Was willst du denn wirklich jetzt machen, Georg?«frage ich nach einer Weile wieder. Er lächelt nachdenklich.»Ich, Ernst? Ich bin nur durch ein Versehen nicht gefallen — das macht mich etwas lächerlich.«

Ich schiebe seine Hand weg und starre ihn an. Er beruhigt mich.»Zunächst werde ich mal wieder ein bißchen wegfahren.«

Er spielt mit seinem Spazierstock und blickt lange vor sich hin.»Erinnerst du dich noch, was Giesecke einmal sagte? In der Anstalt droben. Nach Fleury wollte er. — Zurück, weißt du. Er glaubte, daß es ihm helfen würde. —«

Ich nicke.»Er ist immer noch da oben. Karl ist neulich bei ihm gewesen. —«

Leise beginnt es zu wehen. Wir blicken auf die Stadt und die lange Reihe der Pappeln, unter denen wir früher Zelte gebaut und Indianer gespielt haben. Georg war immer der Anführer, und ich habe ihn geliebt, wie nur Knaben lieben können, die nichts davon ahnen.

Unsere Augen begegnen sieb.»Old Shatterhand«, sagt Georg leise und lächelt.

«Winnetou«, antworte ich ebenso leise.

II

Je näher der Tag der Verhandlung rückt, um so öfter denke ich an Albert. Und plötzlich, eines Tages, sehe ich klar und deutlich eine Lehmwand vor mir, eine Schießscharte, ein Gewehr mit Zielfernrohr und dahinter ein kalt lauerndes, gespanntes Gesicht: Bruno Mückenhaupt, den besten Scharfschützen des Bataillons, der nie vorbeitraf. Ich springe auf — ich muß sehen, was er macht, und wie er damit fertig geworden ist.

Ein hohes Haus mit vielen Wohnungen. Die Treppen triefen vor Nässe. Es ist Sonnabend, und überall stehen Eimer, Schrubber und Frauen mit aufgesteckten Röcken umher.

Eine schrillende Klingel, die viel zu laut für die Tür ist. Zögernd öffnet jemand. Ich frage nach Bruno. Die Frau läßt mich eintreten. Mückenhaupt sitzt in Hemdsärmeln auf dem Boden und spielt mit seiner Tochter, einem Mädchen von ungefähr fünf Jahren, strohblond, mit einer großen, blauen Schleife im Haar. Er hat ihr aus Silberpapier einen Fluß über den Teppich gelegt und Papierschiffchen darauf gesetzt. Einige davon haben Wattebäuschchen angesteckt, das sind die Dampfer, und kleine Zelluloidpuppen fahren darin mit. Bruno raucht behaglich eine mittellange Pfeife. Auf dem Porzellankopf ist das Bild eines kniend schießenden Soldaten zu sehen mit der Umschrift: Üb Aug und Hand fürs Vaterland!

«Sieh, Ernst«, sagt Bruno, gibt dem Mädchen einen Klaps und läßt es allein weiterspielen. Wir gehen in die gute Stube. Sofa und Stühle sind aus rotem Plüsch, gehäkelte Schondeckchen liegen auf den Lehnen, und der Fußboden ist so glatt gebohnert, daß ich ausrutsche. Alles ist sauber und an seinem Platz; Muscheln, Nippsachen und Fotografien stehen auf der Kommode und dazwischen, in der Mitte, auf rotem Samt, unter einem Glassturz, Brunos Orden.

Wir sprechen von den Zeiten damals.»Hast du deine Trefferliste noch?«frage ich.

«Aber Mensch«, erwidert Bruno vorwurfsvoll,»die hat doch einen Ehrenplatz.«

Er holt sie aus der Kommode und blättert genießerisch darin herum.»Im Sommer war natürlich immer meine beste Zeit, weil man da abends so lange sehen konnte. Hier — warte mal — Juni — 18. vier Kopfschüsse, 19. drei, 20. einer, 21. zwei, 22. einer, 23. keiner, Fehlanzeige. Da hatten die Schweinehunde nämlich was gemerkt und waren vorsichtig geworden — aber hier, paß mal auf, 26. Da war die neue Ablösung gerade angekommen, die von Bruno noch keinen Dunst hatte, neun Kopfschüsse, was sagst du nun?«

Er strahlt mich an.»In zwei Stunden! Es war komisch, ich weiß nicht, ob es davon kam, daß ich sie vielleicht von unten, vom Kinn aus anblies, jedenfalls flogen sie nacheinander wie die Ziegenböcke bis zur Brust aus dem Graben hoch. — Und sieh mal hier — 29. Juni 10.02 abends Kopfschuß, kein Witz, Ernst, du siehst, ich habe Zeugen gehabt, da steht es: Bestätigt, Vizefeldwebel Schlie. Zehn Uhr abends, fast im Dunkeln, Leistung, was? Mann, was waren das für Zeiten!«»Sag mal, Bruno«, frage ich,»die Leistung war ja großartig, aber jetzt — ich meine, tun dir die armen Kerle nicht manchmal ein bißchen leid?«

«Was?«antwortet er verblüfft.

Ich wiederhole, was ich gesagt habe.»Damals war man ja mitten drin, Bruno — aber heute ist doch alles anders geworden. «Er schiebt seinen Stuhl zurück.»Mensch, du bist wohl Bolschewist, was? War doch Pflicht! Befehl! So was —. «Beleidigt packt er sein Trefferbuch wieder in das Seidenpapier.

Ich beruhige ihn mit einer guten Zigarre. Er macht versöhnt ein paar Züge und erzählt von seinem Schützenverein, der jeden Sonnabend tagt.»Neulich hatten wir einen Ball. Klasse, sag ich dir! Und nächstens Preiskegeln. Du mußtmal hinkommen, Ernst, ein Bier gibt es in dem Lokal, so gepflegt habe ich selten eins getrunken. Und zehn Pfennig billiger der Topp als anderswo. Das macht was aus pro Abend. Schneidig und gemütlich geht's da zu. Hier — «, er zeigt auf eine vergoldete Kette,»Schützenkönig geworden! Bruno I.! Sache, was?«Das Kind kommt herein. Ein Schiffchen ist entzweigegangen. Bruno macht es sorgfältig zurecht und streichelt dem Mädchen über das Haar. Die blaue Schleife knistert.