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Das Licht der Dämmerung ist noch hell genug, um sehen zu können. Außerdem sind Rahes Augen an Dunkelheit gewöhnt. Er verläßt den Weg und geht querfeldein. Nach einiger Zeit stolpert er. Rostiger Draht hakt in seiner Hose und hat einen Winkel hineingerissen. Er bückt sich, um ihn loszumachen. Es ist der Stacheldraht eines Verhaus, der sich an einem zerschossenen Graben entlangzieht. Rahe richtet sich auf. Die kahlen Felder der Schlacht liegen vor ihm.

In der ungewissen Dämmerung sind sie ein aufgewühltes und erstarrtes Meer, ein versteinerter Sturm. Rahe spürt den fahlen Dunst von Blut, Pulver und Erde, den wilden Geruch des Todes, der immer noch in dieser Landschaft ist und Gewalt hat.

Unwillkürlich zieht er den Kopf ein, die Schultern schieben sich hoch, die Arme hängen lose nach vorn, die Hände sind fallbereit in den Gelenken — das ist nicht mehr der Gang aus den Städten — das ist wieder das geduckte, vorsichtige Schleichen des Tieres, das lauernde Sichern des Soldaten. —

l'.r bleibt stehen und beobachtet das Gelände. Vor einer Stunde noch war es ihm fremd, aber jetzt kennt er es wieder, jede Höhe, jede Bodenfalte, jedes Tal. Er ist nie fortgewesen, die Monate schrumpfen im Aufflackern der Erinnerung zusammen wie Papier, sie verbrennen und verfliegen wie Rauch. — Hier schleicht wieder der Leutnant Georg Rahe abends auf Patrouille, und nichts ist sonst gewesen dazwischen. Um ihn ist nur das Schweigen des Abends und der schwache Wind in den Gräsern — in seinen Ohren aber brüllt wieder die Schlacht, er sieht die Explosionen rasen, Leuchtschirme hängen wie riesige Bogenlampen über der Vernichtung, schwarzglühend kocht der Himmel, und die Erde spült sich in Fontänen und Schwefelkratern donnernd von Horizont zu Horizont.

Rahe beißt die Zähne zusammen. Er ist kein Phantast, aber er kann sich nicht wehren: die Erinnerung überstürzt ihn wie ein Wirbelsturm, hier ist noch kein Frieden, nicht der Scheinfrieden der übrigen Welt, hier ist immer noch Kampf und Krieg, hier rast die Zerstörung geisterhaft weiter und ihre Strudel verlieren sich in den Wolken.

Die Erde packt zu, sie greift nach ihm wie mit Händen, der gelbe, dicke Lehm klebt an den Schuhen und macht die Schritte schwer, als wollten die Toten mit dumpfen, murrenden Stimmen den Überlebenden zu sich herabziehen.

Er rennt über die schwarzen Trichterfelder. Der Wind wird stärker, die Wolken wandern, und manchmal gießt der Mond sein fahles Licht über die Landschaft. Jedesmal hält Rahe dann mit gepreßtem Herzen an, wirft sich hin und klebt bewegungslos am Boden. Er weiß, es ist nichts, aber beim nächstenmal springt er wieder erschreckt in einen Trichter. Sehend und bewußt verfällt er dem Gesetz dieser Erde, über die man nicht aufrecht gehen kann.

Der Mond ist ein riesiger Leuchtschirm geworden. Die Stümpfe des Wäldchens stehen schwarz vor dem blonden Licht. Hinter den Ruinen der Ferne zieht sich die Schlucht hin, durch die nie ein Angriff kam. Rahe hockt in einem Graben. Stücke eines Koppels liegen da, ein paar Kochgeschirre, ein Löffel, verdreckte Handgranaten, Patronentaschen, und daneben graugrünes, nasses Tuch, faserig, halb schon zu Lehm geworden, die Reste eines Soldaten.

Er legt sich lang auf die Erde, das Gesicht am Boden — und das Schweigen beginnt zu reden. Ein dumpfes, ungeheures Brausen ist in der Erde, stoßweises Atmen, Dröhnen, und wieder Brausen, Klappern und Klirren. Er krallt die Finger hinein und preßt den Kopf dagegen, er glaubt Stimmen zu vernehmen und Rufe, er möchte fragen, sprechen, schreien, er lauscht und wartet auf eine Antwort, eine Antwort auf sein Leben. —

Aber nur der Wind wird stärker, die Wolken ziehen rascher und niedriger, und Schatten auf Schatten jagt über die Felder. Rahe richtet sich auf und geht weiter, ohne Richtung, lange Zeit, bis er vor den schwarzen Kreuzen steht, die hintereinander in langen Reihen ausgerichtet sind, wie eine Kompanie, ein Bataillon, ein Regiment, eine Armee.

Und plötzlich weiß er alles. Vor diesen Kreuzen kracht das ganze Gebäude der großen Worte und Begriffe zusammen. Hier allein ist noch der Krieg, nicht mehr in den Gehirnen und den verschobenen Erinnerungen der Davongekommenen! Hier stehen die verlorenen Jahre, die nicht erfüllt worden sind, wie ein gespenstischer Nebel über den Gräbern, hier schreit das ungelebte Leben, das keine Ruhe findet, in dröhnendem Schweigen zum Himmel, hier strömt die Kraft und der Wille einer Jugend, die starb, bevor sie zu leben beginnen konnte, wie eine ungeheure Klage durch die Nacht.

Schauer überlaufen ihn. Grell erkennt er mit einem Schlage seinen heroischen Irrtum, den leeren Rachen, in den die Treue, die Tapferkeit und das Leben einer Generation versunken sind. Es würgt und erschüttert ihn.

«Kameraden!«schreit er in den Wind und in die Nacht:»Kameraden! Wir sind verraten worden! Wir müssen noch einmal marschieren! Dagegen! — Dagegen — Kameraden!«

Er steht vor den Kreuzen, der Mond bricht durch, er sieht sie glänzen, sie heben sich von der Erde mit ausgebreiteten Armen, nun dröhnt schon ihr Schritt, er steht vor ihnen und marschiert auf der Stelle, er reckt die Hand aufwärts:»Kameraden — marsch!«—

Und greift in die Tasche und hebt wieder den Arm. Ein müder,

einsamer Knall, der von den Stößen des Windes aufgefangen und weggeschleppt wird — dann taumelt er in die Knie, stützt die Arme auf und wendet sich mit einer letzten Anstrengung den Kreuzen zu

— er sieht sie marschieren, sie stampfen und sind in Bewegung, sie marschieren langsam und ihr Weg ist weit, es wird lange dauern, aber es geht vorwärts, sie werden ankommen und ihre letzte Schlacht schlagen, die Schlacht für das Leben, sie marschieren schweigend, eine dunkle Armee, den weitesten Weg, den Weg in die Herzen, es wird viele Jahre dauern, aber was ist ihnen Zeit? Sie sind aufgebrochen, sie kommen.

Der Kopf sinkt ihm herunter, es wird dunkel um ihn, er fällt vornüber, er marschiert mit dem Zuge. Wie ein spät Heimgefundener liegt er an der Erde, die Arme ausgebreitet, die Augen schon stumpf, ein Knie angezogen. Der Körper zuckt noch einmal, dann ist alles Schlaf geworden, und nur der Wind allein ist noch da über der öden, dunklen Weite, er weht und weht, über die Wolken und den Himmel, die Felder und die endlosen Ebenen mit den Gräben und Trichtern und Kreuzen.

Ausgang

I

Die Erde riecht nach März und Veilchen. Primeln kommen unter dem feuchten Laub hervor. Violett schimmern die Furchen der Äcker.

Wir gehen einen Waldweg entlang. Willy und Kosole voran, Valentin und ich hinterher. Zum ersten Male seit langer Zeit sind wir wieder zusammen. Wir sehen uns nur noch selten.

Karl hat uns sein neues Auto den Tag über zur Verfügung gestellt. Aber er selbst ist nicht mitgekommen, er hat zu wenig Zeit. Seit einigen Monaten verdient er sehr viel Geld, denn die Mark fällt, und das begünstigt seine Geschäfte. Sein Schofför hat uns herausgefahren.

«Was machst du eigentlich, Valentin?«frage ich.

«Ich reise auf den Jahrmärkten herum«, antwortet er,»mit einer Schiff Schaukel.«

Ich sehe ihn erstaunt an.»Seit wann denn?«

«Schon eine ganze Zeit. Meine Partnerin damals hat mich bald im Stich gelassen. Sie tanzt jetzt in einer Bar. Foxtrotts und Tangos. Das wird heute mehr verlangt. Na, und dazu ist ein alter Kommißknüppel wie ich nicht fein genug.«

«Bringt die Schiffschaukel denn was ein?«frage ich.

Er winkt ab.»Hör auf! Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel! Und dies ewige Herumziehen! Morgen geht's schon wieder auf die Walze. Nach Krefeld. Schön auf den Hund gekommen ist man, Ernst! Wo steckt Jupp eigentlich?«

Ich zucke die Achseln.»Fortgezogen. Ebenso wie Adolf. Haben nie wieder was von sich hören lassen.«

«Und Arthur?«

«Der ist bald Millionär«, erwidere ich.