«Der versteht's«, nickt Valentin trübselig.
Kosole bleibt stehen und dehnt die Arme.»Kinder, Spazierengehen ist ja ganz schön — wenn man bloß nicht arbeitslos dabei wäre.«»Glaubst du nicht, daß du bald wieder was kriegst?«fragt Willy. Ferdinand schüttelt zweifelnd den Kopf.»Leicht wird's nicht sein. Ich stehe auf der schwarzen Liste. Bin nicht zahm genug. Na, wenigstens gesund ist man. Und vorläufig pumpe ich bei Tjaden. Der sitzt ja gut im Fett.«
An einer Lichtung machen wir halt. Willy holt eine Schachtel Zigaretten heraus, die Karl ihm mitgegeben hat. Valentins Gesicht heitert sich auf. Wir setzen uns hin und rauchen.
Die Kronen der Bäume knarren leise. Ein paar Meisen zwitschern. Die Sonne ist schon stark und warm. Willy gähnt herzhaft und legt sich dann auf seinem Mantel lang. Kosole macht sich aus Moos eine Art Kopfstütze zurecht und legt sich dann ebenfalls hin. Valentin sitzt nachdenklich am Stamm einer Buche.
Ich sehe die vertrauten Gesichter an, und einen Augenblick schwankt alles wunderlich — da hocken wir wieder beieinander, wie so oft früher — wenige nur noch — aber sind selbst wir noch wirklich beieinander?
Kosole horcht plötzlich auf. Aus der Ferne kommen Stimmen. Junge Stimmen. Es werden Wandervögel sein, die an diesem silbern verhangenen Tag mit Lauten und Bändern ihre erste Wanderung machen. Vor dem Kriege haben wir das ja auch getan — Ludwig Breyer, Georg Rahe und ich.
Ich lehne mich zurück und denke an die Zeit damals; an die Abende am Lagerfeuer, an die Volkslieder, die Gitarren und die feierlichen Nächte vor dem Zelt. Das war unsere Jugend. In diesen Jahren vor dem Kriege lebte in der Romantik des Wandervogels die Begeisterung für eine neue, freie Zukunft, die dann in den Schützengräben noch eine Zeitlang loderte und 1917 im Grauen der Materialschlachten zusammenbrach.
Die Stimmen kommen näher. Ich stütze mich auf die Arme und hebe den Kopf, um den Zug vorüberwandern zu sehen. Sonderbar — vor ein paar Jahren gehörten wir noch dazu, und jetzt erscheint es, als wäre das schon eine ganz neue Generation, eine Generation nach uns, die wieder aufnehmen kann, was wir fallen lassen mußten. — Rufe ertönen. Ein ganzer Schwall, fast wie ein Chor. Dann nur noch eine einzelne Stimme, und noch nicht zu verstehen. Zweige brechen und der Boden hallt dumpf von vielen Tritten. Wieder ein Ruf. Wieder Tritte, Brechen, Schweigen. Dann klar und deutlich ein Befehclass="underline" »Von rechts anreitende Kavallerie — mit Gruppen rechts schwenkt — marsch, marsch —!«
Kosole springt auf. Ich ebenfalls. Wir blicken uns an. Narrt uns ein Spuk? Was soll das heißen?
Da bricht es auch schon vor uns aus den Büschen, rennt an den Waldrand, wirft sich nieder auf den Boden. — »Visier vierhundert!«knarrt die Stimme von vorhin —»Schützenfeuer!«
Es tackt und knattert. Eine lange Reihe von fünfzehn- bis siebzehnjährigen Jungen liegt ausgeschwärmt nebeneinander am Waldrand. Sie tragen Windjacken und haben Ledergürtel wie Koppel darüber geschnallt. Alle sind gleichmäßig gekleidet, mit grauen Jacken, Wik- kelgamaschen und Kappen mit Abzeichen — das Uniformmäßige ist absichtlich betont. Jeder hat einen Spazierstock mit Bergspitzc bei sich, mit dem er gegen die Bäume klappert, um das Gewehrfeuer nachzuahmen.
Unter den kriegerischen Kappen aber sehen junge, rotwangige Kindergesichter hervor. Aufmerksam und erregt spähen sie nach der von rechts anreitenden Kavallerie aus. Sie sehen nicht das zarte Wunder der Veilchen unter dem braunen Laub — nicht den violetten Dunst des Werdens über den Äckern — nicht das flaumig pelzige Fell des Junghasen, der durch die Furchen hoppelt. Doch, den Hasen sehen sie — aber sie zielen nur mit ihren Stöcken danach, und heftiger schwillt das Klappern gegen die Stämme an. Hinter ihnen steht ein kräftiger Mann mit etwas Bauch, ebenfalls in Windjacke und Wickelgamaschen, und gibt ihnen energische Befehle.»Ruhiger feuern! Visier zweihundert!«Er hat einen Feldstecher bei sich und beobachtet den Feind.
«Himmel, Herrgott!«sage ich erschüttert.
Kosole hat sich von seinem Staunen erholt.»Was ist denn das für ein verdammter Blödsinn?«schimpft er wütend.
Aber er kommt schlecht an. Der Führer, zu dem sich noch zwei andere gesellen, blitzt und donnert. Die weiche Frühlingsluft schwirrt nur so von markigen Worten.»Schnauze halten, Drückeberger! Vaterlandsfeinde! Schlappes Verräterpack!«
Die Jungen stimmen eifrig mit ein. Einer schüttelt seine schmale Faust.»Wir müssen euch wohl mal auf die Rolle nehmen, was?«schreit er mit heller Stimme.»Feiglinge!«fällt ein anderer ein.»Pazifisten!«ein dritter.»Diese Bolschewiken müssen alle erledigt werden, eher wird Deutschland nicht frei«, ruft rasch und eingelernt ein vierter.
«Recht so!«Der Führer klopft ihm auf die Schulter und rückt vor.»Jagt sie weg, Jungens!«
In diesem Augenblick wacht Willy auf. Er hat bis jetzt geschlafen. Darin ist er noch immer altes Militär — wenn er lang liegt, schläft er gleich ein.
Er richtet sich auf. Der Führer bleibt sofort stehen. Willy sieht mit großen Augen um sich und bricht in ein Gelächter aus.»Ist hier Maskenball?«fragt er. Dann begreift er die Situation.»So ist's richtig«, knurrt er zu dem Führer herüber,»ihr habt uns wahrhaftig schon lange wieder gefehlt! Ja, ja, Vaterland — das habt ihr allein in Erbpacht, was? Die ändern sind alle Verräter, was? Komisch, daß dann drei Viertel des deutschen Heeres Verräter waren! Macht, daß ihr wegkommt, ihr Gespenster! Könnt ihr den Jungens die paar Jahre nicht lassen, wo sie noch nichts davon wissen?«
Der Führer hat seine Armee zurückgezogen. Aber der Wald ist uns verleidet. Wir gehen zum Dorf zurück. Hinter uns schallt es rhythmisch und abgehackt:»Frontheil! Frontheil! Frontheil!«»Frontheil? — «Willy greift sich in die Haare.»Wenn man das einem Muskoten im Felde gesagt hätte!«
«Ja«, sagt Kosole ärgerlich,»so geht es wieder los.«
Vor dem Dorfe finden wir einen kleinen Wirtsgarten, in dem bereits ein paar Tische draußen stehen. Obwohl Valentin schon in einer Stunde wieder bei seiner Schiffschaukel sein muß, setzen wir uns noch rasch etwas hin, um die Zeit auszunützen — wer weiß, wann wir wieder einmal zusammen sind. —
Ein blasses Abendrot färbt den Himmel. Ich muß immer noch an die Szene vorhin im Walde denken.»Mein Gott, Willy«, sage ich,»wir leben doch alle noch und sind kaum erst raus — wie ist es da möglich, daß es schon wieder Menschen gibt, die so etwas machen?«»Die wird's immer geben«, erwidert Willy ungewöhnlich ernst und nachdenklich,»aber uns gibt's ja auch noch. Und so wie wir, denken eine ganze Masse Leute. Die allermeisten, das könnt ihr wohl glauben. Mir ist seit damals — ihr wißt ja, seit Ludwig und Albert — so allerhand durch den Schädel gegangen, und ich finde, daß jeder auf seine Weise irgendwas tun kann, selbst wenn er eine Kohlrübe als Kopf hat. Nächste Woche sind meine Ferien zu Ende, und ich muß wieder als Schulmeister aufs Dorf. Darauf freue ich mich direkt. Ich will meinen Jungens da beibringen, was wirklich Vaterland ist. Ihre Heimat nämlich, und nicht eine politische Partei. Ihre Heimat aber sind Bäume, Äcker, Erde und keine großmäuligen Schlagworte. Ich habe mir das lange hin und her überlegt und gefunden, daß wir alt genug sind, eine Aufgabe zu haben. Dies ist meine. Sie ist nicht groß, das gebe ich zu. Aber für mich reicht sie. Ich bin ja auch kein Goethe. «Ich nicke und sehe ihn lange an. Dann brechen wir auf.
Der Schofför wartet auf uns. Leise gleitet der Wagen durch die langsam einfallende Dämmerung.
Wir sind schon nahe an der Stadt, und die ersten Lichter flammen bereits auf, da mischt sich in das Knirschen und Mahlen der Reifen ein langgezogener heiserer, kehliger Laut — am Abendhimmel zieht in der Richtung nach Osten ein hakenförmiger Keil — eine Schar wilder Gänse. —
Wir blicken uns an. Kosole will etwas sagen, schweigt dann aber. Wir denken alle dasselbe.
Die Stadt kommt mit Straßen und Lärm. Valentin steigt aus. Dann Willy. Dann Kosole.