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II

Ich war den ganzen Tag im Walde. Jetzt bin ich müde in einem kleinen Landgasthof eingekehrt und habe mir ein Zimmer für die Nacht geben lassen. Das Bett ist schon aufgedeckt, aber ich mag noch nicht schlafen. Ich setze mich ans Fenster und lausche auf die Geräusche der Frühlingsnacht.

Schatten fließen zwischen den Bäumen hindurch, und vom Walde her kommen Rufe, als lägen dort Verwundete. Ich sehe ruhig und gefaßt in das Dunkel, denn ich fürchte die Vergangenheit nicht mehr. Ich blicke ihr in die erloschenen Augen, ohne mich abzuwenden. Ich gehe ihr sogar entgegen, ich schicke meine Gedanken zurück in die Unterstände und Trichter — aber wenn sie wiederkehren, bringen sie keine Angst und kein Entsetzen mehr mit, sondern Kraft und Willen.

Ich habe auf einen Sturm gewartet, der mich retten und fortreißen müßte — doch nun ist es leise gekommen, ohne daß ich es gefühlt habe. Aber es ist da. Während ich verzweifelte und alles verloren glaubte, wuchs es still heran. Ich glaubte, Abschied sei immer ein Ende. Heute weiß ich: Auch Wachsen ist Abschied. Auch Wachsen heißt Verlassen. Und es gibt kein Ende.

Ein Teil meines Daseins hat im Dienste der Zerstörung gestanden — es hat dem Haß, der Feindschaft, dem Töten gehört. Aber das Leben ist mir geblieben. Das ist beinahe eine Aufgabe und ein Weg. Ich will an mir arbeiten und bereit sein, ich will meine Hände rühren und meine Gedanken, ich will mich nicht wichtig nehmen, sondern weitergehen, auch wenn ich manchmal bleiben möchte. Es gibt vieles aufzubauen und fast alles wieder gutzumachen, es gibt zu arbeiten und auszugraben, was verschüttet worden ist in den Jahren der Granaten und der Maschinengewehre. Nicht jeder braucht ein Pionier zu sein — es werden auch schwächere Hände und geringere Kräfte gebraucht werden. Dort will ich meinen Platz suchen. Dann werden die Toten schweigen, und die Vergangenheit wird mich nicht mehr verfolgen, sondern mir helfen.

Wie einfach das alles ist; aber wie lange hat es gedauert, dahin zu finden. Und vielleicht hätte ich mich doch noch im Vorgelände verirrt und wäre den Drahtschlingen und Sprengkapseln zum Opfer gefallen, wenn nicht Ludwigs Tod wie eine Rakete vor uns aufgeschossen wäre und uns den Weg gezeigt hätte. Wir verzweifelten, als wir sahen, daß der Strom unserer Gemeinschaft, der Wille des gewaltig schlichten, an der Grenze des Todes wiedergewonnenen Lebens, nicht die überlebten Formen der Halbwahrheit und der Selbstsucht wegfegte und sich neue Ufer suchte, sondern versickerte in den Mooren des Vergessens, abgeleitet wurde in die Sümpfe der Phrasen, verrieselte in den Gräben der Verhältnisse, der Sorgen und Berufe. Heute weiß ich, daß alles im Leben vielleicht nur Vorbereiten ist und Wirken im einzelnen, in vielen Zellen, in vielen Kanälen, jedes für sich — und so wie die Zellen und Kanäle eines Baumes den aufwärts drängenden Saft nur aufzunehmen und weiterzuleiten brauchen, so wird wohl auch daraus dann einmal Rauschen und besonntes Laub werden, Wipfel und Freiheit. Ich will anfangen.

Es wird nicht die Erfüllung werden, von der wir in der Jugend geträumt und die wir nach den Jahren draußen erwartet haben. Es wird ein Weg sein wie die ändern, mit Steinen und guten Strecken, mit aufgerissenen Stellen und Dörfern und Feldern — ein Weg der Arbeit. Ich werde allein sein. Vielleicht finde ich manchmal jemand für eine Strecke — für immer wohl nicht. Und es mag sein, daß ich noch oft meinen Tornister aufheben muß, wenn die Schultern schon müde sind; und oft werde ich wohl auch noch zögern an Kreuzwegen und Grenzen und etwas zurücklassen müssen und stolpern und fallen — aber ich will wieder aufstehen und nicht liegenbleiben, ich will weitergehen und nicht umkehren. Vielleicht werde ich nie mehr ganz glücklich sein können, vielleicht hat der Krieg das zerschlagen, und ich werde immer etwas abwesend sein und nirgendwo ganz zu Hause — aber ich werde auch wohl nie ganz unglücklich sein —, denn etwas wird immer da sein, um mich zu halten, und wären es auch nur meine Hände oder ein Baum oder die atmende Erde.

Der Saft steigt in den Stämmen, mit schwachem Knall platzen die Knospen, und das Dunkel ist voll vom Geräusch des Wachsens. Die Nacht ist im Zimmer und der Mond. Das Leben ist im Zimmer. In den Möbeln knackt es, der Tisch kracht und der Schrank knarrt. Man hat sie vor Jahren gefällt und zerschnitten, gehobelt und geleimt zu Dingen des Dienens, zu Stühlen und Betten — aber in jedem Frühjahr, in den Nächten des Saftes, rumort es wieder in ihnen, sie erwachen, sie dehnen sich, sie sind nicht mehr Gerät, Stuhl und Zweck, sie haben wieder teil am Strömen und Fließen des Lebens draußen. Unter meinen Füßen knarren die Dielen und bewegen sich, unter meinen Händen knackt das Holz der Fensterbank, und neben dem Wege vor der Tür treibt selbst der zersplitterte, morsche Stamm einer Linde dicke braune Knospen — in wenigen Wochen wird er ebenso kleine seidengrüne Blätter haben, wie die weit verbreiteten Äste der Platane, die ihn überschatten.