8. Dezember
»Warum scheiden Tierheime eigentlich aus?«, fragte sich Max am Samstag Vormittag, als es schneite, ohne dass er davon erfuhr. Er hatte die Jalousien heruntergelassen, um nicht an Weihnachtseinkäufe denken zu müssen. Es war der »zweite lange Einkaufssamstag«. Wer klug war, kaufte jetzt. Da alle klug waren, kauften alle jetzt. Max hatte die Jalousien heruntergelassen, um ungestört nicht so klug zu sein wie alle anderen.
Warum schieden Tierheime also eigentlich aus? »Tierheim?«, fragte er Kurt, der unter seinem Sessel lag und schlief. Da Kurt nicht reagierte, war es ihm offensichtlich egal ob Tierheim oder nicht. Und langsam war es Max ebenfalls egal, es hatte sogar seine Vorteile. Für »Treue Augenblicke« würde dies eine dramatische Serie unter dem Motto »Wie Kurt im Halbschlaf zwei Wochen Tierheim überlebte« abwerfen. Und vielleicht wäre Kurt danach abgehärtet genug, wenigstens einmal täglich freiwillig Gassi mitzugehen.
Was Max und Weihnachten und die Malediven betraf, war die Entscheidung gefallen. Er hatte eine ideale Insel gefunden (und per Internet gebucht). Es war die einzige Insel, die seine finanziellen Grenzen zwar aufzeigte und aufweichte, aber nicht sprengte. Und dort war noch Platz für ihn frei. Das heißt: Dort war Platz ausschließlich für ihn frei. Es gab exakt eine Not-Unterkunft mit einem Not-Bett. (Alle redeten vom Single-Urlaub, Max würde ihn machen.) Einsam? Aber nein! Tagsüber würde er ohnehin von Tauchern umgeben sein und er selbst würde ebenfalls einen Tauchkurs absolvieren. (Die Rechnung würde er seinen Großeltern nach Helsinki schicken.)
Vielleicht würde er unterhalb des Meeresspiegels eine Frau kennen lernen - nichts Ernstes natürlich, einfach nur eine Urlaubsbekanntschaft. Sie könnten sich unter Wasser umarmen und einige Dinge mehr tun. (Sauerstoff würden sie ja wohl genug dabei haben.) Max hätte diesbezüglich keine Hemmungen. Es hätte jeder sein eigenes Mundstück, die Tauchgefährtin wäre oral ausgelastet und käme gar nicht auf dumme Gedanken. So könnte also nichts passieren, man könnte der gemeinsamen Fantasie freien Lauf lassen und man müsste sich danach nicht einmal duschen. Und wenn sich die Taucherin unter Wasser einmal in ihn verliebt hatte, dann könnte er sie ja bitten, ob sie so nett wäre, den Schnorchel auch an Land im Munde zu behalten. Dann würde er ihr sein Zimmer zeigen, sie könnten die Nacht miteinander verbringen, die Insel gehörte praktisch ihnen beiden. Sie würden dann gleich dort bleiben und eine eigene Tauchbasis errichten - mit Schnorcheltragepflicht auch an Land. Kurzum: Max freute sich auf den Urlaub.
Aber zunächst musste er einmal Kurt anbringen. »Tierheim« war nicht nur seine einzige, sondern eigentlich auch eine verdammt gute Idee, dachte er. Vielleicht würde er nach dem Urlaub auch vergessen haben, dass er einen Hund gehabt hatte - und ihn unabsichtlich einfach nicht mehr abholen. Kurt würde sich sowieso nicht mehr an sein Herrl erinnern, er wüsste gar nicht, in welchem Zusammenhang er sich an ihn erinnern sollte. Und beide könnten ein neues Leben beginnen. Er, Max, würde sich einen Goldfisch zulegen. Er würde eine eigene Goldfisch-Kolumne in einer renommierten Zeitung bekommen. »Verschwommene Augenblicke« würde sie heißen. »Einzigartig«, würden die internationalen Kritiker jubeln, »dieser Mann versteht es, einen scheinbar beschäftigungslosen Zierfisch lebendig, lebenslustig, frisch von der Fischleber weg zu beschreiben, minutiös genau in all seinen Tagesabläufen, als tickte unter seinen Kiemen ein Schweizer Präzisionsuhrwerk, und zugleich einfühlsam, mit noch nie gelesener Süßwasserpsychologie. Wer von Trixi, dem Goldfisch, erfährt, wird sich in ihn verlieben. Und Millionen Leser wissen plötzlich, dass auch in einem noch so kleinen Lebewesen eine Seele baumelt ...«
Und Kurt würden sie im Tierheim zum Hundevertreter wählen und er würde eine eigene politische Partei anführen, die Schlafpartei. Forderungen: weniger Essen, weniger Gassi, weniger Menschen, mehr Fernsehen, mehr Frieden, mehr Ruhe. Und irgendwann würden sie einander auf der Straße begegnen, Kurt und er. Sie würden einander wieder erkennen und liebevoll zuzwinkern, denn sie wollten die Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, plötzlich nicht mehr missen. Sie würden denken, dass sie damals eben noch zu jung füreinander gewesen seien und dass sie ihren Weg alleine hatten gehen müssen. »Du bist ein aufgewecktes Bürschchen geworden«, würde Max Kurt anerkennend zurufen. Und Kurt würde freudig bellen. - Nein, das würde er nicht tun; übertreiben würde er es nicht. Aber »Tierheim« war eigentlich eine sensationell gute Idee, dachte Max, als das Telefon läutete. Es war Katrin, die junge Augenärztin, die Frau, die er unlängst im Traum küssen musste, die Frau, die Kurt nicht nehmen würde, weil man Kurt nicht nehmen konnte, weil Kurt unannehmlich und unannehmbar war. »Ich nehme ihn«, sagte sie. »Wann kann ich ihn ausprobieren? Vielleicht gleich morgen?« - »Ja, das könnten wir uns einrichten«, erwiderte Max. Besser als Tierheim, dachte er.
Katrins Plan war einfach. Was heißt überhaupt Plan? Sie brauchte einen Grund, warum sie den Weihnachtsabend nicht bei ihren Eltern verbringen konnte. Und ihr fiel kein besserer Grund als ein Hund ein. Also musste sie ihn haben - diesen Kurt. Natürlich könnte sie auch nur so tun, als hätte sie ihn. (Wie sollten es die Eltern überprüfen?) - Aber das war nicht die Lösung. Katrin brauchte den Hund, den Grund, den Heiligen Abend nicht bei ihren Eltern zu verbringen, vor allem für sich selbst. Denn hund- und grundlos würde sie wahrscheinlich doch wieder zu ihren Eltern gehen. Wohin sonst? Es gab doch an diesem beschissenen 24. Dezember, ihrem beschissenen Geburtstag, keine andere Möglichkeit, als »daheim« zu feiern. Und es gab für Katrin beschissenerweise nur ein einziges »Daheim«, und das war bei ihren Eltern. Bei sich selbst daheim, in ihrer Wohnung, war sie eben nicht daheim. Das heißt: 364 Tage im Jahr war sie es und sie fand, sie war auch glücklich dabei. Aber an diesem einen Abend, dem beschissenen 24. Dezember, dem beschissenen Geburtstag, ging es nicht. Dreimal hatte sie es versucht.
Anlässlich ihres 23. Weihnachts-/Geburtstages legte sie sich um sechs nieder, wachte um neun auf und vernichtete eine Flasche Wein, die auf ihrem Nachtkasten stand. Es war ihr Weihnachts- /Geburtstagsgeschenk von Augenarzt Dr. Harrlich. Eigentlich wollte sie die Flasche nur vom Geschenkpapier befreien, um wieder einschlafen zu können. Wein musste ja bekanntlich atmen. Und Katrin ebenfalls. - In Weihnachtspapier gehüllte Flaschen schnürten ihr die Atemwege zu. Es gab für sie kein schärferes Sinnbild der Einsamkeit, als am Heiligen Abend, dem Geburtstag, um neun Uhr aufzuwachen und die Umrisse einer in Weihnachtspapier gehüllten Weinflasche zu erkennen.
Um diese schon wieder skurril erbärmliche Einsamkeit wenigstens mit sich selbst teilen zu können, steckte sich Katrin die geöffnete Bouteille in den Mund, kippte ihren Kopf zurück und stellte ihn erst wieder gerade, als die Flasche halb leer war. Danach gelüstete ihr nach weiteren sozialen Kontakten. Deshalb rief sie bei Familie Weiss an und wünschte ihr ein schönes Fest. Diplomingenieur Herbert Weiss war damals ihr Geliebter. Nein, umgekehrt: Katrin war seine Geliebte. Er war zwar sechzehn Jahre älter als sie, aber er meinte, das tue nichts zur Sache. Und die Sache sei: Katrin war die Frau seines Lebens. Noch nie hatte er mit einem Menschen so gut reden können wie mit Katrin. Noch nie hatte ihn eine Frau so gut verstanden (obwohl sie noch so jung war). Und auch im Bett harmonierten sie großartig, fand er. So großartig, dass er sogar in den Mittagspausen zu ihr kam, um zu harmonieren. Dabei verzichtete er sogar auf das gute Reden.
Diplomingenieur Weiss war fest entschlossen, seine längst gescheiterte Ehe - seine praktisch schon gescheitert begonnene Ehe - zu beenden, um mit Katrin, der Frau seines Lebens, ein neues Leben zu beginnen (das Leben seines Lebens) beziehungsweise das gleiche Leben mit viel mehr Katrin und ganz ohne Ehefrau fortzusetzen. Problematisch war dies eigentlich nur wegen der Kinder. Denn Diplomingenieur Weiss hing sehr an ihnen. Fünf und sieben Jahre waren sie alt und sie hatten große, nach ihrem Papa schreiende Kinderaugen, wusste Katrin aus Erzählungen.