Deshalb wollte er zur Trennung nur noch das Weihnachtsfest abwarten, denn zu Weihnachten waren die nach dem Papa schreienden Kinderaugen erfahrungsgemäß besonders groß. - Es handelte sich übrigens um das Weihnachtsfest vom Vorjahr. Katrin war mittlerweile des Diplomingenieurs Geliebte im zweiten Weihnachtsjahr. Warum er sich nach dem ersten Fest nicht hatte scheiden lassen? - Nun, die nach ihrem Papa schreienden Kinderaugen waren überraschenderweise über Weihnachten hinaus groß geblieben. Dann kam Ostern, dann der Urlaub, dann ging der Kleine erstmals zur Schule. Und dann stand ohnehin schon wieder Weihnachten vor der Tür. Das wollte Diplomingenieur Weiss noch ein allerletztes Mal familiär hinter sich bringen, wegen der Kinderaugen. Danach würde das Leben mit Katrin beginnen.
Sie stand also unmittelbar vor der Beendigung einer einjährigen Wartezeit. Sie wartete dabei eigentlich nicht auf den Diplomingenieur selbst, nur auf das Ende, auf ihn zu warten, denn dieser Zustand war konsequent unerträglich. Ob sie ihn liebte? - Das konnte sie nicht sagen. So gut kannte sie ihn nicht. Warum sie ihn nicht stehen ließ? - Er war noch nicht reif zum Stehengelassenwerden, er stand ja noch gar nicht richtig da. Er stopfte ihr eigentlich nur die Mittagspausen mit seiner horizontalen Art von Harmonie zu.
Nun, sie rief also an und wünschte der Familie ein schönes Weihnachtsfest. Die gescheiterte Frau zur Ehe war am Apparat, im Hintergrund hörte Katrin erstmals jene Kinderstimmen, die zu den großen, nach dem Papa schreienden Kinderaugen gehörten. »Wer sind Sie?«, fragte die gescheiterte Ehefrau überraschend interessiert. »Die Geliebte von ihrem Ex-Mann«, erwiderte Katrin. Das »Geliebte« kam vielleicht etwas vulgär, das »Ex« war inhaltlich ein bisschen übertrieben, aber in ihrem Kopf entfaltete der Flascheninhalt bereits sein volles Bouquet. Die gescheiterte Ehefrau sagte dann nichts mehr. Dafür war Diplomingenieur Weiss plötzlich am Apparat und meinte fünfmal fragend »Hallo?«, ehe er: »Sie müssen sich verwählt haben« von sich gab. Das klang zwar ziemlich distanziert für einen Mann, der gerade mit der Frau seines Lebens sprach. Aber im Grunde hatte er Recht. Katrin legte auf, duschte sich eine Stunde kalt, machte sich einen Kaffee, zog sich an und fuhr zu ihren Eltern. Die wollten sich gerade gemeinsam das Leben nehmen, weil ihr Kind Anstalten gezeigt hatte, am 24. nicht nach Hause zu kommen. Daheim bei den mit dem Schrecken davongekommenen Eltern übernahm Katrin noch rasch ihre Geschenke und schlief sich dann sogleich ihren Weinrausch und ihren einjährigen Weiss-Kater aus. Der Diplomingenieur meldete sich nie wieder.
Zwei Jahre später war es wieder so weit. Katrin war unzweifelhaft in der idealen Verfassung, Weihnachten (und ihren 25. Geburtstag) nicht bei ihren Eltern zu verbringen. Am Telefon erzählte sie ihnen, sie hätte am Vorabend einen Mann kennen gelernt. Heute wollten sie gemeinsam Geburtstag und Weihnachten feiern und übermorgen wollten sie heiraten. (Sie selbst sagte weder »übermorgen« noch »heiraten«, aber die Eltern dachten es bestimmt.) Mama fragte: »Ist es etwas Ernstes, Goldschatz?« Katrins normale Antwort wäre gewesen: »Mama, wir haben uns gestern kennen gelernt«. Aber sie wollte ihrer Mutter keinen zweiten weihnachtlichen Tiefschlag versetzen und meinte: »Es schaut nach etwas Ernstem aus. Deshalb wollen wir heute zu zweit feiern.« Die Mutter weinte am Telefon - aus Trauer, weil Katrin am 24. nicht heimkommen würde, aber auch aus Freude über die bevorstehende Hochzeit, auf die die Schulmeister-Hofmeisters nicht mehr zu hoffen gewagt hatten.
Katrin hatte niemanden kennen gelernt. Und zwar absichtlich. Sie war in einer Phase, in der sie ihr Single-Dasein zelebrierte, als wäre es ein Tage und Wochen füllendes vegetarisches Degustationsmenü. Dabei fühlte sie sich ausgezeichnet. Die Namen ihrer letzten drei männlichen Versuche (um nicht Versuchungen zu sagen) hatte sie vergessen. (Wer konnte ihr das Gegenteil beweisen?) An den Abenden blieb sie daheim und las esoterische Bücher, die sie jede Minute ein Stückchen näher zu sich selbst brachten. Wenn sie sich erreicht hatte, sah sie fern und ging dann früh schlafen, um am nächsten Tag fit für den nächsten Abend zu sein, an dem sie esoterische Bücher lesen, fernsehen und früh schlafen gehen wollte. Ab und zu telefonierte sie mit bemit- leidenswürdig in zwischenmenschliche Beziehungen verstrickten Freundinnen und riet ihnen, einmal in sich selbst hineinzuhören. Die Freundinnen hörten aber in der Regel nichts. Die Telefonate wurden immer seltener.
Als erster Höhepunkt dieser erfüllenden Epoche bot sich der Heilige Abend an. Katrin hatte erstmals in ihrem Leben einen Christbaum gekauft und ihn mit roten Holzäpfeln und roten Kerzen geschmückt. Sie hatte Kekse gebacken, Fisch gebraten und Mayonnaise-Salat zubereitet. Sie befand sich in einem derartigen Ausnahmezustand des inneren Glücks und des Eins-Seins mit sich, dass sie sogar mit Erzfeind Bing Crosby Frieden schloss und ihn in den CD-Player schob. (Kein Mann hatte ihr Schlimmeres angetan als er - bestechend pünktlich, alle Jahre wieder, zumeist im Chor mit dem festlichen Geheule ihrer Mutter aus Liebe zur Tochter und Mangel an Schwiegersohn.)
Das Essen schmeckte ihr richtig gut. Es war wunderschön, zu »White Christmas« die brennenden Kerzen der Tanne zu beobachten. Schließlich öffnete sie sich zur Feier des Lebens eine Pikkoloflasche Sekt und stieß mit sich auf Weihnachten mit sich, auf Geburtstag mit sich und auf sich im Allgemeinen an. Dabei hätte sie sich gerne fotografiert, aber das wäre technisch zu kompliziert gewesen. Nach dem ersten Schluck Sekt sah sie sich in den Spiegel und bemerkte, dass ihre Mundwinkel erfreulich weit nach oben gezogen waren. Es ging ihr tatsächlich verdammt gut. Es waren ihre schönsten Weihnachten. Sie genügte sich nicht nur, sie war sich mehr als genug. Sie brauchte niemanden. Sie war stolz auf sich.
Nach dem zweiten Schluck fand sie sich neuerlich vor dem Spiegel. An ihren Mundwinkeln hatte sich nichts verändert. Das irritierte sie ein bisschen. Nach dem dritten Schluck blieb sie länger vor dem Spiegel stehen und versuchte, ihre Mundwinkel wenigstens einen Millimeter nach unten zu korrigieren. Es ging nicht. Hoffnungslos. Katrin war einfach zu glücklich.
Einen Schluck trank sie noch. Dann holte sie Bing Crosby aus dem CD-Player und brach ihn in vier Stücke. In zehn Sekunden räumte sie den Baum ab. Dann rannte sie in ihr Schlafzimmer, warf sich auf ihr Bett und verließ es erst eine Stunde später wieder, als es auf dem Kopfpolster keine trockene Stelle mehr gab. Danach schaute sie sich noch einmal in den Spiegel. Endlich: Die Mundwinkel waren herunten. Katrin ging es beschissen wie noch nie.
Sie musste sofort ihre Wohnung verlassen. Jeder Gegenstand darin kam ihr falsch und verlogen vor, das gesamte Weihnachtsszenario war geheuchelt. Auf der Suche nach der geeigneten Ersatzdroge für ihre plötzliche Verzweiflungssucht rief sie bei den Eltern an und teilte ihnen so sachlich wie möglich mit, dass sie nun doch einen Sprung vorbeikommen würde. »Kommt ihr zu zweit, Goldschatz?«, fragte die Mutter aufgeregt. »Nein, er muss schon schlafen gehen«, erwiderte Katrin genervt. »Ist er schon volljährig?«, fragte die Mutter. Es war neun Uhr.
Bei den Eltern gab es eine Geburtstagstorte mit 25 Kerzen und Geschenke: einen Walkman für Mini- Discs, drei Esoterik-Bücher, die sie sich in ihrer abgelaufenen Ära gewünscht hatte, und violettweiße Sportschuhe, Marke: sofort umtauschen. Die Eltern waren glücklich, Katrin doch noch daheim zu haben, wo sie zu Weihnachten nun einmal hingehörte. Fünfmal ging sie aufs Klo, um zu heulen. Sonst blieb sie trocken. Am Ende der Feier glaubten die Schulmeister-Hofmeisters nicht mehr, dass aus der baldigen Hochzeit etwas werden könnte.