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Drei Jahre später war Katrin noch immer nicht verheiratet. Sie hatte zwei unter diesem Gesichtspunkt eher mühsame Weihnachts-/Geburtstagsfeste bei ihren Eltern hinter sich und beschloss, noch einmal zu probieren, am Heiligen Abend auf eigene Faust ein Jahr älter zu werden. Den Eltern täuschte sie dringenden Verdacht auf Windpocken vor. Der Arzt hätte ihr strikt verboten, das Bett zu verlassen oder Besuche zu empfangen.

Katrin hatte sich virtuell verliebt. Er hieß Clemens. Einige Wochen zuvor war er aus dem Cha- troom in ihre Mailbox getreten. Was ihn von Katrins bisherigen Männern unterschied: Er wollte nichts von ihr und sie musste ihm nichts geben. Jeweils nichts außer E-Mails. Clemens war absolut unaufdringlich. Er trat nicht in Erscheinung. Er schrieb nur.

Seine Texte waren nicht von großer literarischer Originalität. Er erzählte meistens, was er gerade machte. Da er immer gerade schrieb, schrieb er, was er sich dabei dachte. Das klang dann so: »Ich sitze vor dem Computer und überlege, was ich dir schreibe.« - Das fand Katrin nett. Sie selbst erzählte nie, was sie gerade tat. Oh doch, eigentlich schon. Im konkreten Fall antwortete sie: »Was überlegst du dir dabei?« - Und genau das hatte sie sich tatsächlich gerade gefragt.

Der Dialog mit Clemens war ein Ratespiel. Er musste erraten, wer sie war. Er war rührend bemüht, sich ein Bild von ihr zu machen. Sie streute höchstens ein paar versteckte Hinweise ein. Sie konnte ihm nicht alles über sich erzählen. Erstens wäre dann das Spiel beendet gewesen und man hätte miteinander aufhören oder mit dem Ernst beginnen müssen, man hätte also wahrscheinlich ein Treffen vereinbaren müssen. Zweitens war Katrin damals weit davon entfernt, alles über sich selbst zu wissen. Hätte sie es gewusst, wäre sie nicht dagesessen und hätte mit einem fremden Typen, von dem sie lediglich das Alter kannte (35), wochenlang »stille Post« gespielt. Sie wollte auch gar nicht alles über sich wissen. Es war viel spannender zu lesen, was ein Mann von ihr hielt, der sie nicht kannte. Auch Katrin war an jener Katrin interessiert, die sie noch nicht kannte. So lernten sie sie beide neu kennen, und dies auf absolut unverfängliche Weise. So schien es zumindest am Anfang.

Knapp vor Weihnachten hatte sie sich dann plötzlich in ihn verliebt. Er schrieb: »Soll ich dir was sagen?« Sie antwortete: »Ja, warum nicht?« Darauf er: »Du bedeutest mir viel.« Sie: »Ehrlich?« Er: »Ja, ich träume von dir.« Sie: »Hoffentlich gut.« Er: »Wie siehst du eigentlich aus?« Sie: »Ich bin leider potthässlich. Details erspare ich dir.« Er: »Das macht nichts. Egal wie du aussiehst, für mich bist du schön.« Natürlich spürte Katrin, dass das im Grunde ein schlimmer Satz war. Clemens dürfte ihn auch nicht erfunden, sondern schon einmal wo gehört haben. Wäre jemand anderer damit gemeint gewesen, hätte sie die Ansage mit der spontanen Anhebung ihres rechten Nasenflügels quittiert und rasch aus ihrem Gedächtnis nach Hollywood verbannt. Aber die Worte galten diesmal ihr. Sie war gerührt und hatte Herzklopfen. Sie schrieb: »Danke. Das war lieb.« Er antwortete: »Ich habe mich in dich verliebt.« Sie erwiderte: »Das ist schön.« Das »Ebenfalls« behielt sie einstweilen für sich.

Am Vormittag ihres 28. Geburtstages war es dann so weit. Sie schrieb an Clemens: »Ich habe ein kleines Weihnachtsgeschenk für dich. Nichts Besonderes. Ich würde es dir gerne geben. Hast du heute irgendwann zwischendurch kurz Zeit? Es ginge auch spät am Abend. Ich habe nichts vor.« - Als sie ihm diese EMail sendete, war ihr, als wäre ihr Magen eine Baustelle und die Arbeiter hätten gerade die Presslufthämmer angeworfen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so viel aufs Spiel gesetzt zu haben, um einem irrationalen Gefühl von Zuneigung nachzugehen.

Das Geschenk war übrigens ein Büchlein mit EMail-Dialogen, eine Art »Best of Katrin and Clemens«. Sie hatte die Mitteilungen von Beginn an aufgehoben und daraus nun in schöner Handschrift eine geraffte Chronologie des Abtasten und Kennenlernens gebastelt. Beim Abschreiben der Sätze, die Clemens an sie gerichtet hatte, verliebte sie sich endgültig besinnungslos in ihn und musste dringend eine Aktion der Annäherung setzen. Am liebsten hätte sie ihn sofort geküsst - am liebsten mit geschlossenen Augen. Sie brauchte nicht zu wissen, wie er aussah, er musste nur physisch anwesend sein. Küssen per E-Mail ging noch nicht.

Die Antwort kam erst am späten Nachmittag. (Bis dahin glaubte sich Katrin auf dem Weg zu einer neuen persönlichen Bestleistung im Verbringen von letztklassigen Weihnachts-/Geburtstagen.) Er schrieb: »Habe jetzt erst deine Mitteilung gelesen und bin halb in Ohnmacht gefallen vor Überraschung und Freude. Natürlich können wir uns treffen. Bin am Abend bei meiner Großmutter. Komme aber gegen neun nach Hause. Maile dir gleich, wenn ich daheim bin.«

Als zehn vor neun seine Nachricht auf Katrins Bildschirm angezeigt wurde, setzten die Arbeiter in ihrem Magen die Bautätigkeit mit schweren Kranwägen fort. Clemens schrieb: »Ich bin schon daheim. Ich könnte in einer halben Stunde bei dir sein.« Darauf sie: »Willst du nicht wissen, wo ich wohne?« Darauf er: »Ich weiß es.« - Schwerer Ausrutscher eines Kranwagenfahrers, beträchtlicher Sachschaden. Katrin schrieb: »WOHER?????« Clemens antwortete: »Wir kennen uns.« - Kranwagenzusammenstoß, wenig Chancen auf Überlebende. Katrin begann Clemens zu hassen und schrieb: »WOHER????????????« - Er erwiderte: »Ich bin aus deiner Filiale. Wenn du reinkommst, sitze ich links am zweiten Schalter. Wir lächeln uns immer an. Am 4. November hast du bei mir 8500 Schilling abgehoben.« - Magendurchbruch, Schaden irreparabel, keine Überlebenden, sofortige Einstellung sämtlicher Bauarbeiten. Sie schrieb: »WIESO WEISST DU DAS?????« - Er antwortete: »Ich bin ein Computerfreak und habe den Code für den anonymen Chatroom geknackt. Dabei hab ich dich entdeckt.«

Katrins letzte E-Mail an Clemens: »Ich will nicht wissen, welches der Bank-Gesichter dort dir gehört. Richte deinem Chef aus, dass ich die Filiale wechseln werde. Dann noch frohe Weihnachten. Und tschüss!«

Eine Stunde später rief die Mutter bei ihr an und wünschte ihr alles Gute zum Geburtstag, alles Gute zu Weihnachten, alles Gute für die Windpocken, alles Gute im Allgemeinen, alles Gute im Speziellen vom Papa, und die Geschenke warteten schon auf sie. Katrin hatte sich gerade eine dicke Schicht Nivea-Creme auf die geschwollenen Augen aufgetragen und sagte, dass es ihr plötzlich so gut gehe, dass der Arzt erlaubt hätte, dass sie das Bett ausnahmsweise verlassen dürfe. Kurzum: Sie würde nach Hause kommen. Und zwar gleich. »Aber Goldschatz, wir wollten gerade schlafen gehen«, sagte die Mutter. Noch besser, dachte Katrin und machte sich fertig.

9. Dezember

Kurt lag unter seinem Sessel und dachte an nichts. Eines seiner kaffeebraunen Glaswürfel-Augen war offen. Er musste es irgendwann in der Nacht irrtümlich aufgemacht und zu schließen vergessen haben. Max war gut aufgelegt und lehnte am Fenster, um das ungewöhnliche sonntagmorgendliche Naturschauspiel zu beobachten. Er schätzte diese Art von Katastrophen. Die Stadt war zwar hoffnungslos zugeschüttet, aber mit sich vollkommen im Reinen. Es hatte 24 Stunden hindurch geschneit. Nun standen früh entschlossene Führerscheinbesitzer mit langstieligem Werkzeug zur Schnee-Umverteilung am Straßenrand und bauten ihren Restalkohol vom Vorabend ab. Jeder schaufelte sein eigenes Fahrzeug aus und dabei gleichzeitig jenes vom jeweils rechten Nachbarn wieder zu. Am Ende war immerhin eines von sieben Autos - das linksäußerste - halbwegs schneefrei. Zumindest für ein paar Minuten. Dann kam der Schneepflug.

Max hatte am Vormittag daheim zu tun. Und das freute ihn. Er hatte sich die Arbeit extra für die Bewältigung des Sonntags aufgehoben. Ihm war ein viertes journalistisches Aufgabengebiet in die Hände gefallen. Über die Seite fünf der »Rätsel-Insel« erstreckte sich allwöchentlich ein Pin-up-Girl. In den ersten Jahren des Magazins hatte es dort lustige Baby-Fotos gegeben. Als man auf Nacktfotos umsattelte, stieg die Auflage um ein Drittel. Als man von lasziven Weichzeichnungen auf klarere Linienführung überging und schärfere Motive aus den ehemals kommunistischen Staaten Europas verwendete, verdoppelte sich die Auflage. Viele Pensionisten gaben »Schlüsselloch« und »Sexy-Hexy« auf und abonnierten die »Rätsel-Insel«. Denn dieses Magazin war auch daheim herzeigbar, man musste es nicht mühsam vor den Ehefrauen verstecken. Es war nicht einmal verdächtig, dass die Herren die alten Ausgaben der »Rätsel-Insel« plötzlich sammelten und stapelweise aufbewahrten. Sie erklärten ihren Frauen einfach, dass sie noch nicht alle Rätsel gelöst hatten. Selbst wenn sie beim Studium der Seite fünf in flagranti erwischt wurden, konnten sie sich aus der Affäre ziehen. Sie mussten nur den Kopf schütteln und Empörung vortäuschen, etwa mit den Worten: »Frechheit! Man kauft sich eine Rätselzeitung - und dann stößt man auf solche Schweinereien!«