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Ja, und Max hatte angerufen. Das Telefonat legte sich Katrin in Dr. Harrlichs Sprechzimmer, sie wusste zwar nicht warum, aber sie tat es. Zwei parallel untersuchte Patienten mussten sich einstweilen mit den Sehtesttafeln still beschäftigen.

Max wollte sich nur für den Spaziergang bedanken. Er sagte, Kurt wisse gar nicht, wie gut es ihm gegangen sei, dass sie mit ihm gegangen sei. Man (Kurt oder Max, das ließ er offen) würde sich jedenfalls freuen, wenn Katrin diese Woche nach Dienst einmal bei ihm vorbeikommen würde. Er (Max) würde einen frischen Birnenkuchen machen, das sei seine absolute Spezialität. Er sei an sich ein schlechter beziehungsweise kein Koch, er könne nicht einmal Spiegeleier machen, ohne dass dabei Rühreier herauskämen. Aber der Birnenkuchen, der liege ihm, den habe er im Griff, damit hätte er sich bereits in die Herzen sämtlicher Großmütter des Wohnbezirkes gebacken. Sie müsse ihn unbedingt einmal kosten, am besten noch diese Woche. Sie könne jederzeit kommen, er habe sonst nichts vor. Er sei süß, aber auch wieder säuerlich, aber nicht zu sehr. (Der Birnenkuchen.) Er (Max) sei am Abend meistens zu Hause und arbeite. - Karin musste unwillkürlich an die Pin-ups denken.

»Diese Woche ist es bei mir terminlich schon ein bisschen eng«, log sie. Vor allem das Wort »terminlich« mit den beiden unnahbaren »i« war ihr gut geglückt, fand sie. »Aber eventuell morgen irgendwann zwischendurch.« - Vor fünf Jahren hätte Katrin einfach mit »morgen« geantwortet und auf die drei Krücken der Vorsicht, auf »eventuell«, »irgendwann« und »zwischendurch« verzichtet. »Jederzeit«, erwiderte Max. Er dürfte ein anderer Typ sein als sie, dachte sie: vermutlich der gegenteilige.

Bei Beate gab es Hühnerrisotto. Katrin kostete ein Stück Huhn, schob den Rest des Fleisches an den Tellerrand, probierte einen Teelöffel Reis, schaufelte den Rest zum Huhn, aß, was übrig geblieben war (fünf Rosinen), und fragte Beate, ob sie ein Stück Brot haben könnte. »Was mache ich falsch?«, fragte Beate. Es ging nicht mehr ums Risotto, sondern bereits um Joe.

Joe war Musiker. Katrin hatte ihn noch nie gesehen. Er war meistens mit seiner Band auf Tournee. Beate hatte großes Verständnis dafür. Beate hatte großes Verständnis für alles, was Joe machte oder nicht machte. »Weißt du, Musik ist sein Leben«, sagte sie oft. Er war Gitarrist oder Bassist oder Schlagzeuger in einer Rock- oder Folk- oder BigBand, glaubte sie. »Weißt du, er redet nicht gern über seine Arbeit. Wenn er mit mir zusammen ist, dann ist er lieber ganz privat«, meinte Beate. Fast alle Sätze, die von Joe handelten (also fast alle Sätze) begannen mit: »Weißt du ...« Jeder dieser  Sätze war darauf angelegt, einen scheinbaren Missstand in Zusammenhang mit Joe so aufzuklären, dass dabei etwas Gutes für Joe und somit etwas Schmeichelhaftes für sie herauskam, etwas dass ihn entweder als tollen Kerl auswies oder gar seine Liebe zu ihr unter Beweis stellte.

Katrin hatte Beate vor drei Jahren in der Fahrschule kennen gelernt. Sie saß neben ihr, war am Unterricht desinteressiert (das gefiel Katrin) und frisch verliebt. (Das gefiel ihr weniger.) Nach drei Stunden hätte Katrin bereits antreten können: zur theoretischen Joe-Prüfung. Sie wusste alles über Beates ersten drei Wochen mit ihm, von Typ und Klasse über Abschleppen, Antrieb, Leistung und Bremsproblemen bis hin zum Fahrgestell.

Beate hatte sich von ihm in einer Bar aufreißen lassen. Joe war dort nach einem Konzert hängen geblieben. Es gab zu der Zeit ein Wohnungsproblem mit seiner damaligen Ex-Freundin. Sie ließ ihn nicht mehr in die Wohnung. Beate war mit drei Freundinnen unterwegs gewesen - zwei fadisiert verheiratet und auch die dritte gelangweilt liiert, also auf Abenteuersuche. Beate suchte eher wieder etwas »Festeres«, nicht unbedingt kräftig, aber mit mehr Zukunft als die Männer ihrer Vergangenheit.

Sie hatten Joe schon fast drei Stunden lang »süß« gefunden: wie er still für sich dasaß und einen Joint nach dem anderen rauchte (um das Wohnungsproblem in den Griff zu bekommen). Nur die Haarspitzen musste er sich schneiden lassen, beschloss man. Die waren schon recht staubig, weil er mit ihnen in gebückter Haltung zwangsläufig den Boden aufkehrte. Aber er war ein Mann, der ohne seine subkulturelle Hängematte wie lieblos skalpiert ausgesehen hätte.

Als er sie auf eine Runde Tequila einlud, schlugen alle vier Herzen noch ein deutliches Stück höher. Am höchsten schlug jenes von Beate. Denn Joe hatte nur Augen für sie. (Sie war die einzige, die allein wohnte, kombinierte Katrin.)

Zur Belohnung für seine auf sie konzentrierten Augen durfte er jedenfalls bei ihr übernachten. »Weißt du, er schaut zwar vielleicht ein bisschen wild aus, aber er ist eben Künstler«, erzählte sie Katrin danach. »Außerdem ist er sehr reinlich, er hat sogar seine Zahnbürste mitgehabt«, verriet sie. - »Sag bloß, du hast mit ihm gleich in der ersten Nacht geschlafen«, sagte Katrin. »Weißt du, wir haben es eigentlich gar nicht vorgehabt, aber es hat sich spontan ergeben. Joe ist sehr spontan«, erwiderte Beate und kicherte.

In dieser Art ging es drei Jahre weiter, nur verlagerte sich Joes Spontaneität kontinuierlich weg von Beate. Es war eine jener einseitigen Liebesgeschichten, die sich darüber definierten, dass im Grunde nichts da war, was wiederum die Illusion auf alles und die Hoffnung auf vieles nährte. Zumindest Beate definierte es so. Denn Joe war ja nicht da.

Unter den wenigen Dingen, die Beate von ihm erfuhr, waren unabsichtlich fünf Frauengeschichten.

»Weißt du«, sagte sie dann (jeweils) zu Katrin, »er schlittert in solche Sachen hinein, er ist eben ein Gefühlsmensch. Aber es bedeutet ihm nichts. Er sagt, er liebt nur mich.« - Nach diesen Worten verließ sie allerdings der Mut. Da kamen ihr zumeist Tränen dazwischen. Oder sie probierte: »Weißt du, er sieht das nicht als Betrug an, sonst würde er versuchen, es vor mir geheim zu halten. Aber das tut er nicht. Das zeigt, dass es ihm nichts bedeutet. Denn er liebt nur mich.« Auch diese Version ging selten ohne Tränen ab. Und Katrin hatte endlich die Möglichkeit zu fragen: »Ist es nicht besser, du lässt ihn stehen?« Eine sinnlose Frage, denn Beate »lässt nicht«, Beate »wird gelassen.« Folglich reagierte sie ausweichend und fragte: »Was mache ich falsch?« Darauf dachte Katrin »alles« und sagte nichts.

Diesmal, am Tag des Hühnerrisottos, hatte Joe ein versprochenes Wochenende mit Beate in letzter Minute stornieren müssen, weil ihm eine Kurztournee dazwischengekommen war. »Erfährt er von seinen Auftritten immer erst einen Tag davor?«, fragte Katrin. »Weißt du ...«, erwiderte Beate. Und dann kamen: »Künstler«, »zerstreut«, »chaotischer Manager«, »tut ihm selbst so leid« und »hat sich schon so darauf gefreut«. Dann weinte Beate. Dann tröstete sie Katrin. Dann fiel ihr Beate in die Arme und schluchzte. Dann klopfte ihr Katrin mütterlich aufs Schulterblatt und wählte dazu die schlimmste Lüge, die man Freundinnen antut, um ihnen Gutes zu tun: »Wird schon werden!« - »Glaubst du?«, fragte Beate mit sich von Tränen verabschiedender Stimme. »Ja«, log Katrin. Auch schon egal. Beate fühlte sich besser.

Und Katrin ging es auf dem Nachhauseweg richtig gut. Der schmelzende Schnee roch nach eingeweichten Cornflakes. Die Luft war scharf wie Pfefferminze. Katrin atmete auf und durch. Sie hatte das Gefühl, als würde sie ihren inneren Organen eine Heilmassage angedeihen lassen. Sie freute sich auf ihre kleine Wohnung, die sie mit keinem partnerschaftlichen Problem teilen musste. Es tat ihr gut, nicht verliebt zu sein, sich nach niemandem zu richten und auf nichts und niemanden warten zu müssen. In der Küche befanden sich exakt jene Teller und Tassen noch nicht im Geschirrspüler, die Katrin nicht hineingestellt hatte, weil ihr exakt diese Handgriffe zu viel gewesen waren. Im Badezimmer musste sie nicht nachdenken, ob sie die rote oder die blaue Zahnbürste verwenden sollte - beide gehörten ihr. Im Schlafzimmer lag der Kopfpolster in der Mitte des Doppelbettes und würde nicht irgendwann in der Nacht auf eine der Seiten abgeschoben werden. Und Licht leuchtete so lange, bis Katrin und nur Katrin es abdrehen würde.