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12. Dezember

Die Straßen waren frisch geölt vom Nieselregen, aber es half nichts. Kurt musste Max ins Büro von »Leben auf vier Pfoten« begleiten. Sie mussten die wöchentliche Kolumne »Treue Augenblicke« verfassen. Max brauchte Kurt diesmal persönlich, denn er hatte noch keine Idee, was an schriftlich Verwertbarem er seinem Deutsch-Drahthaar entlocken konnte. Er war auf jede Regung des Hundes angewiesen, auf jede seiner täglichen drei.

Kurt ging nicht gern in ein Büro, schon gar nicht im Winter, schon gar nicht, wenn der Boden nass, rutschig und dreckig war - und schon gar nicht in jenes von »Leben auf vier Pfoten«. Dort waren die Menschen in unerträglicher Weise anlehnungsbedürftig. Sie liebten Tiere so sehr, dass sie vor Freude tanzen, singen, springen und manchmal sogar weinen mussten, wenn sie eines sahen. Überhaupt wenn sie Kurt sahen. Er war ihr Lieblingstier. Denn er konnte sich nicht wehren. Es war ihm zu anstrengend. Und gegen die vielen streichelnden, abgrabbelnden, knuddelnden, grapschenden Hände der »Leben-auf-vier-Pfoten«-Mitarbeiter hätte er ohnehin niemals eine Chance gehabt. Also ließ er die Zuwendungen über sich ergehen.

Außerdem gab es dort die Siamkatze Deneuve, von der es hieß, sie sei »nur ein bisschen verspielt«, aber »gutmütig«. Auch von Kurt hieß es, er sei »gutmütig«. Die Leute wussten gar nicht, wie knapp er manchmal daran war, ihnen anhand von Deneuve das Gegenteil zu beweisen. Deneuve trieb ihn mit ihrer Verspieltheit an den Rand des Wahnsinns. Sie sprang ihn an, hängte sich an seinen Hals, schleckte ihn ab, biss ihn in den Schwanz, rieb ihren Kopf in seinem Fell und wischte sich dabei ihre abgestandenen »Sheba«-Speisereste ab. In diesen Situationen war Kurt überzeugt, dass Deneuve einmal »daran glauben« werde müssen. Ein einziger Biss in die Kehle und es würde für immer Ruhe herrschen, wusste er. Aber was, wenn er nicht punktgenau traf? Dann raste sie quietschend herum, er musste ihr nachjagen, überall Katzenblut - vor dieser Vorstellung grauste ihm. Also ließ er die Torturen über sich ergehen. Meistens stellte er sich schlafend, da wurde es Deneuve dann ohnehin bald zu blöd. Meistens schlief er auch tatsächlich ein.

Auch Max kannte angenehmere Gesellschaften als jene von »Leben auf vier Pfoten«. Die Kollegen, großteils allein stehende, nach Katzenstreu riechende Pensionistinnen mit Papageienstimmen, trauten ihm nicht. Aus ihren argwöhnischen Eulenaugen blinzelte der stete Verdacht auf Tierquälerei. Sie betrachteten jede seiner Gesten und Handgriffe Kurt gegenüber, um sofort einzugreifen und allenfalls Anzeige zu erstatten. Sie hatten Max nie verziehen, dass er sich Kurt eigens angeschafft hatte, um daraus journalistisches Kapital zu schlagen und sich eine ständige Einnahmequelle zu verschaffen. Für sie war, was er mit Kurt trieb, mit Prostitution und Ausbeutung gleichzusetzen, ja schlimmer noch, denn ein Tier konnte sich weniger wehren als ein Mensch und Kurt offensichtlich noch weniger als ein anderes Tier.

Die schreiberische Herausforderung beim Verfassen der Kolumne war so groß, dass sich Max wöchentlich wunderte, sie doch immer wieder aufs Neue anzunehmen. Das Zielpublikum (sofern man von »Publikum« sprechen konnte) waren Kinder aus ärmlichen Verhältnissen, die sich die drittklassigen Tierfotos ausschnitten, und Rentner über sechzig, die mit dem Papier von »Leben auf vier Pfoten« die Kisten ihrer Schildkröten, Meerschweinchen und Hauskaninchen auslegten. Max hatte also das Problem, nicht genau zu wissen, für wen er »Treue Augenblicke« eigentlich verfasste. Kurt, er, seine Freunde und seine Kollegen schieden von vornherein aus und Leser gab es keine.

Als Max vor dem Bildschirm saß und Kurt dabei beobachtete, wie er keine Anstalten machte, eine Regung zu zeigen, die sich beschreiben ließ (er schlief, Deneuve pfauchte im Nebenzimmer, die Türe war verschlossen), da dachte er an Katrin. Das passierte ihm seit dem gemeinsamen Birnenkuchen öfter. Sie gefiel ihm irgendwie. Das »irgendwie« dachte er sich vorsichtshalber dazu. Er wusste genau, wie sie ihm gefiel. Aber dieser Gedanke war unerlaubt. Katrin war eine Geschäftspartnerin in Sachen Kurt und Weihnachten (über die Bezahlung hatten sie eigentlich noch gar nicht geredet).

Dazu war Katrin eine Frau, in die sich Max nie verlieben konnte, weil ... Warum eigentlich nicht? - Egal, er konnte es jedenfalls nicht, er war richtig empört, dass das überhaupt eine Möglichkeit zu sein schien. Solche Möglichkeiten setzten ihn unter Druck. Außerdem hatte sie einen seltsam im Hintergrund befindlichen Freund (der keinen Birnenkuchen mochte; was freilich auf einen schlechten Charakter und mangelnde Genussbereitschaft schließen ließ). Außerdem war sie eine Frau, die man garantiert küssen musste, eine Frau, die es ohne Kuss niemals tun würde, eine Frau, an deren Mund es kein Vorbei gab, eine Frau, die sicher nie an die Liebe glaubte, ohne dabei ans Küssen zu denken. Max schüttelte sich vor dem Bildschirm. Kurt, der Platz genommen hatte, hob eine Augenbraue etwa einen halben Millimeter, um sicher zu gehen, dass er nichts versäumte. Das war noch nicht die Regung, auf die sich der neue Teil von »Treue Augenblicke« aufbauen ließ.

Aber Max musste vor sich selbst zugeben, dass es ein schöner Gedanke war, Katrin weihnachts- und kurtgeschäftspartnerschaftlich die Hand auf die Wange zu legen und ihr dann sachte übers Ohr zu fahren, ihre schwarzen Haarspitzen entlang auf den Hinterkopf, vielleicht noch ein Stück tiefer auf den Nacken. Und unter dem Pulloverkragen, wo sich ihre Haut besonders warm anfühlte, da sich dort jede Haut besonders warm anfühlte, würde er innehalten und die Augen schließen. Und - kein Kuss! Ja, das war ein schöner Gedanke.

Kein schöner Gedanke war die Hundekolumne. Kurt war fest entschlossen, auch weiterhin keinen Beitrag dafür zu leisten. Also begann Max zu schreiben. Er stellte sich seine Leserin vor und schon ging es. Er schrieb diesmal exklusiv für eine imaginäre 75-jährige Hundebesitzerin, die gerade ihre neue Lesebrille ausprobierte und rein zufällig bei »Treue Augenblicke« hängen geblieben war. Sie sollte bei der Lektüre nicht bereuen, dass sie für ihren Sehtest »Leben auf vier Pfoten« und nicht etwa das Telefonbuch gewählt hatte - das war sein Ziel.

treue Augenblicke, Teil 83

Titeclass="underline" Kurt wünscht sich ein Frauerl fürs Herrl.

Text: Hallo liebe Tierfreunde, liebe Hundeliebhaber, liebe Deutsch-Drahthaar-Verbündete! Ich kann euch beruhigen. Kurt ist gesund. Er hat diese Woche besonders brav gegessen. Einmal hat er sogar Schweinshaxen bekommen, da hat er nur die Borsten übrig gelassen. Wir essen ja bei den Rindsrouladen auch nicht die Zahnstocher mit, nicht wahr. Und er war auch immer brav Gassi, er hat jedes Mal schön das Bein gehoben und weggestreckt, damit sich sein Herrl daheim das Abduschen sparen konnte. Unsere Hunde sind ja doch viel reinlicher als ihr Ruf.

Kurt war ein braver Hund. Er hat in dieser Woche kein einziges Mal gebellt. - Da könnte sich der Opa ein Beispiel nehmen, nicht wahr. Er hat viel geschlafen. Das ist gut für sein Fell, es kriegt dann einen besonders schönen Glanz. Und wir vergönnen es Kurt. Es sind ja jetzt die kurzen Tage und die langen Nächte ins Land gezogen, an denen sich Kurt gar nicht früh genug niederlegen kann, um gar nicht spät genug wieder aufstehen zu können.

Sind unsere Hunde nicht zu beneiden? Keine Weihnachtseinkäufe, keine Hektik, kein Gedränge, keine nervenaufreibenden Stunden im Verkehrsstau. Ja, an so einem grauen Dezembertag, würden wir da nicht alle gern mit unseren Vierbeinern tauschen? Ja, das würden wir. Nur, wie singt doch Reinhard May so schön: Den Kühlschrank müsste man uns schon aufmachen, wenn wir Hunde wären. Aber Spaß beiseite.« (Max biss sich in die Unterlippe, bis es weh tat.)

»Manchmal fühlt sich Kurt schon sehr einsam mit seinem Herrl. So wie Kinder Vater und Mutter brauchen ...« Max hielt inne. Konnte er das wirklich schreiben? Er blickte zu Kurt. Der lag unter einem Bürosessel und schlief. Deneuve kratzte an der Tür des Nebenzimmers. Kollegin Eleonore Königsberger, die Hamster-Päpstin von »Leben auf vier Pfoten«, beschwerte sich zwei Räume weiter (aber laut genug) über die hamsterunwürdige Hamsterhaltung in den Hamsterhandlungen und über Hamsterkäufe an sich. Ihre Stimme schien eine heisere kaukasische Saatkrähe zu imitieren. - Max hatte keine Wahl. Er musste schreiben, ohne zu denken. Er musste rasch fort von hier.