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»So wie Kinder Vater und Mutter brauchen, so wünscht sich ein Hund zum Herrl ein Frauerl. Während Herrl mit ihm Gassi geht, richtet Frauerl schon das Essen her. Im Bett weiß unser vierbeiniger Liebling endlich, wo er hingehört - genau in die Mitte. Und beim Spazierengehen muss er nicht diese vielen sinnlosen Läufe beim Aportieren von leblosen Stockis unternehmen. Er läuft dann einfach zwischen Frauerl und Herrl hin und her und beide klatschen vor Freude in die Hände. Und so gibt es Dutzende Beispiele des täglichen Lebens, die uns zeigen, wie viel schöner ein Hundeleben mit Herrl und Frauerl gemeinsam ist .«

Acht Zeilen fehlten ihm noch. Er hatte das zwingende Gefühl, sich für diese Geschichte noch am selben Tag mit angenehmer Abendgesellschaft belohnen zu müssen. Da er ohnehin gerade vor dem Computer saß, wählte er den unaufdringlichen schriftlichen Weg der Kommunikation. Er schickte vier E-Mails und hoffte auf zumindest eine positive Antwort. An Rodriguez, einen gebürtigen Argentinier, den er während seines (dreimonatigen) Soziologiestudiums kennen gelernt hatte - nicht nur während, auch statt des Studiums -, schrieb er: »Hallo Rod, ein spontaner Überfall. Hast du heute Abend Zeit und Lust auf eine kleine Weinverkostung in unserer alten Stammkneipe? Ich würde mich freuen, dich wieder einmal zu sehen. Lieber Gruß. Max.«

Die zweite E-Mail ging an Paula und Samuel, an sein liebstes befreundetes Pärchen. Sie: Apothekerin und standhaft platonische Freundin bei lediglich drei so genannten Ausrutschern. Er: Architekt, zwei Köpfe kleiner als sie und ein bisschen verdrückt im Gesicht, aber er küsste angeblich gut. Ihnen schlug er einen gemeinsamen Kinobesuch oder ein Essen beim Italiener vor.

Ein deutlich flaueres Gefühl hatte Max bei E-Mail Nummer drei. Das ging an Natalie, bei der er sich seit dem letzten Treffen im Oktober nicht mehr gemeldet hatte. Der damalige Abend war haarscharf an einem Kuss vorbeigegangen. Natalie war erst 22, also zwölf Jahre jünger als er. Sie studierte Anglistik und liebte auf vergleichsweise wenig naive Art einen ihrer Professoren, einen Professor, der auf vergleichsweise naive Art jede zweite Anglistikstudentin liebte. Das war die Basis der bisherigen Gespräche mit Max, der ihr die Augen öffnen wollte, ehe sie plötzlich sehr weit offen waren und seinen Mund anvisierten. Diesen Blick kannte er. Da gab es nur entweder Flucht oder Übelkeit. Er wählte die Flucht.

Jetzt schrieb er ihr: »Hallo Natalie. Natürlich bist du beleidigt, dass ich damals so abrupt aufgebrochen bin und mich einfach nicht mehr gemeldet habe. Wenn du willst, erkläre ich es dir. Wenn du willst, heute Abend. Hast du Zeit auf ein paar Gläser Wein?« - Hoffentlich meldet sie sich nicht, dachte Max, als er den Mittelfinger von der Taste »Löschen« wegstreckte und ihn auf »Senden« fallen ließ.

Die vierte E-Mail ging an Katrin. Und Max musste zugeben, dass ihm diese am meisten am Herzen lag. Nein, er gab es nicht zu. Er schrieb: »Hallo Katrin. Vielleicht hast du zufällig Lust und Zeit, mit mir und Kurt einen kleinen Nebelspaziergang im Esterhazy- park zu machen. Kurt liebt Nebel. Da kann er stehen bleiben und warten, was geschieht. Anschließend könnten wir beide Glühwein trinken gehen. Dein Freund kann ja mitkommen. Lieber Gruß. Max.« - Wehe, der Freund kommt mit, dachte er.

Kurt schlief noch immer. Deneuve pfauchte hinter der Tür und kratzte daran. Max fehlten noch acht Zeilen seiner Kolumne. »Und so gibt es Dutzende Beispiele des täglichen Lebens, die uns zeigen, wie viel schöner ein Hundeleben mit Herrl und Frauerl gemeinsam ist«, hatte er zuletzt geschrieben. Das war an sich ein perfekter Schlusssatz. Deshalb beschloss er, weiter oben einfach noch ein paar Beispiele einzufügen: »Wenn das Herrl einmal schlecht aufgelegt ist, kriegt das unser vierbeiniger Liebling mit voller Wucht zu spüren. Gibt es aber auch ein Frauerl im Haus, so wird die üble Laune des Herrls dem Hund gar nicht auffallen, die konzentriert sich dann ganz auf das Frauerl. Das Gleiche funktioniert natürlich auch umgekehrt.« (Ein genialer Füllsatz, dachte Max.) »Und wenn die beiden einmal streiten, dann freut sich der Dritte. Und der Dritte ist ja fast immer unser lieber Hund.« Daran fügte sich nahtlos: »Und so gibt es Dutzende Beispiele des täglichen Lebens, die uns zeigen, wie viel schöner ein Hundeleben mit Herrl und Frauerl gemeinsam ist.

Schnauzbussi von Kurt, Adventgrüße von Herrl Max.« - Geschafft! Kurt weckte Max auf und schleifte ihn, an Deneuve und Königsberger vorbei, aus dem Büro.

Von Katrin gab es keine Antwort. Auch Rodriguez hatte sich nicht gemeldet. Paula schrieb: »Schön, dass es dich auch noch gibt. Heute Abend ist uns leider zu kurzfristig. Sami muss arbeiten, ich bin mit Freundinnen verabredet. Aber am Wochenende ist Sami auf einem Seminar. Da hätte ich Zeit. Lass von dir hören. Paula.«

Und Natalie hatte geantwortet: »Hallo Max. Ich bin nicht beleidigt. Ich bin nur verwundert. Ich hatte dich eigentlich nicht so eingeschätzt, dass du dich von heute auf morgen schleichst (und übermorgen plötzlich wieder auftauchst). Ich habe dir sehr vertrauliche Dinge von mir gesagt - und hatte jetzt mehrere Wochen Gelegenheit, meine Offenheit dir gegenüber zu bereuen. Edgar hat heute ein Blockseminar. Ich habe also am Abend Zeit. Mein Interesse gilt jetzt weniger dir als deiner Erklärung. Ruf mich also an. Wenn ich dich hiermit verschreckt habe, lass es bleiben. Gruß, Natalie.«

Sie hatte ihn zwar nicht verschreckt, aber ihm war nun doch eher danach, es bleiben zu lassen. Bis sechs Uhr nachmittags wartete er auf eine Antwort von Katrin. Dann rief er bei ihr an, sprach ihr auf den Anrufbeantworter: »Kurt muss jetzt schon dringend. Lange können wir nicht mehr auf dich warten.« Kurt wollte natürlich nicht müssen. Er lag unter seinem Sessel und schlief. Max richtete sich bis acht Uhr auf einen Heimabend mit Toast, Ketschup, Doris Lessing, Teletext, Cabernet Sauvignon und Herby Hankock ein. Dann fand er sich mit seiner Ruhelosigkeit ab und rief Natalie an. Er überließ ihr sogar noch den Heimvorteil. Ihr »Willst du mich nicht besuchen?« klang unverbindlich. Sonst hätte er nicht eingewilligt, zu ihr zu gehen. Kurt blieb daheim. Und bewachte das Haus. (Kleiner Scherz.)

Natalie hätte man niemals auf 22 geschätzt, obwohl sie klein, zart und mit einem kindlich anmutenden blonden Pagenkopf ausgestattet war. Sie hatte eine tiefe raue Stimme, altersweise braune Augen, die sie in der Minute fünfmal zusammenkniff, um die Altersweisheit unter Beweis zu stellen, und schmale Hände, die grazil vor ihrem Gesicht tanzten, um jede ihrer Aussagen zu bekräftigen, was gar nicht notwendig gewesen wäre. Ihre Aussagen waren kräftig genug. Dir fehlte jede Spur von Naivität und jeder Ansatz einer Bereitschaft, Naivität vorzutäuschen, um schutzbedürftig zu wirken. Dieser Mangel machte sie jugendlich abgeklärt. Das gefiel Max an ihr.

Als kleines Vorprogramm zu seinen mit Spannung erwarteten »Erklärungen«, warum in aller Welt er sich ihr hatte verweigern können, erzählte sie von ihrer abgekühlten Liebe zu Edgar, dem Anglistikprofessor, der nicht fähig war, sich für sie zu entscheiden. Da »abgekühlt« und »Liebe« im Tonfall Natalies ein Widerspruch in sich war, ahnte Max, dass ihr der Professor noch immer sehr viel bedeutete, dass sie ihn keineswegs aufgegeben hatte, dass sie sich vielmehr für seine polygamische Lebensweise bei ihm rächen wollte. Als sie ihren Pullover auszog und wie sie ihn auszog und ihr Body darunter keiner war, den man zufällig anhatte, wusste Max, wann und mit wem sie sich bei ihrem Professor rächen wollte: jetzt und mit ihm.