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Seine Entscheidung, ihr nicht die Wahrheit zu sagen, fiel, als sie »Also jetzt erkläre mir, was damals mit dir los war« sagte - und wie sie es sagte. Sie schmunzelte dabei. Sie rückte ganz nah zu Max und berührte sein Knie mit ihrem Handrücken. Sie verzichtete auf das misstrauische Zusammenkneifen ihrer Augen. Sie erwartete eine schmeichelhafte Antwort, spürte Max. Sie wollte hören, dass sie ihm zu selbstbewusst und anspruchsvoll gewesen war, dass er eine »unkomplizierte Geschichte« mit ihr angestrebt hatte und dass er plötzlich das Gefühl gehabt hatte, mit ihr sei nur eine »ernstere Sache« möglich; etwas in der Art.

Erstens verabscheute Max seinen zerstörerischen Stehsatz »Tut mir leid, mir graust vor Küssen«.

Zweitens hatte er plötzlich das Gefühl, er könnte es diesmal schaffen. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen und hatte die Konturen seiner traumatisch im Hirn verankerten fetten Sissi aufgelöst. Und drittens: Ja, er war erregt. Sehr sogar. Er hatte das Bedürfnis, Natalie zu spüren, ihre Haut zu berühren, seine Hände um ihren Rücken zu schlingen, sie an den Hüften zu nehmen, fest an sich zu drücken, sich auf sie zu legen, seinen Körper an ihrem zu reiben, in sie einzudringen, ihr in die vor Begierde glänzenden Augen zu sehen, wie diese seine Erregtheit beobachteten und gleichzeitig stimulierten, anfeuerten und auf die Spitze trieben.

Sie war dazu bereit, sie lud ihn ein. Sie begann sich mit ihrem Oberkörper katzenartig auf sein Gesicht zuzubewegen. Sie senkte die linke Schulter und ließ den Träger des Bodys auf ihren Oberarm rutschen. Sie umfasste seine Handgelenke und drückte fest zu, um ihm das Gefühl des Gefesseltseins zu geben und ihn gleichzeitig dazu zu animieren, sich von den Fesseln zu befreien.

Und doch hielt sie ihn mit Worten noch einmal auf Distanz: »Also, was war damals los mit dir? Warum wolltest du mich nicht küssen?«, fragte sie beinahe stimmlos und mit gespieltem schwerem Atem. - Worte hätten jetzt alles zerstört. Für Max gab es nur eine einzige Erwiderung, die Natalie in dieser Situation akzeptiert hätte, auf die sie wahrscheinlich auch wartete. Da blieb nur die eine Möglichkeit, seine Begierde stillen zu dürfen, nur dieser eine Schlüssel zu ihrem Körper. Grausames Schicksaclass="underline" Max musste Natalie küssen.

Er schloss die Augen und näherte sich ihrem Mund. Er spürte es warm und weich an seinen Lippen, wie immer mehr Fläche davon bedeckt wurde. Ein erster Schub eines flauen Gefühls stieg ihm vom Magen hoch. Max hielt sich zunächst krampfhaft an ihren Schultern fest und tastete sich dann zur Ablenkung an ihre Brüste heran. Doch Natalie schnappte seine Hände und legte sie zu den Schultern zurück. Diese Geste war eindeutig: Der Kuss hatte für sich zu stehen, Vorgriffe waren nicht erlaubt. Natalies Leidenschaft verlangte ein Mindestmaß an Beherrschtheit. Ihre Hingabe war intuitiv organisiert. Selbst am Weg zur Ekstase gab es eine Reihenfolge von Stationen, die eingehalten werden musste. Erste und wichtigste Station: der ekstatische Kuss.

Max spürte ihre Zunge an seinen Zähnen, wie sie versuchte, seine zu finden. Ein erster eindeutiger Schub von Übelkeit stieg in ihm hoch. Er riss die Augen auf und sah dieses schöne entspannte Gesicht, das nichts von seiner aufkommenden Verzweiflung ahnte. Natalie war in sich versunken, bei ihr ging bereits alles ohne Denken, ohne Absicht, ohne Hindernis. Sie gab sich dem Erlebnis hin. Für sie war küssen purer Sex.

Ihre Zunge hatte seine berührt und erste Kreise darum gezogen. Max spürte den alten erbarmungslosen Kampf in sich, Erregung gegen Übelkeit. Ein zweiter Schub aus der Magengegend verriet ihm, wer gleich wieder der unumstrittene Sieger sein würde. Er riss sich von Natalies Mund los und ließ sich im Sofa zurückfallen. Er wusste, was er sich und ihr jetzt nur ja nicht antun durfte - und wartete in depressiver Ohnmacht darauf, dass es eintrat.

Natalie war unfähig, das Problem zu erkennen und ahnte nicht, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie bewegte sich auf den willenlos Liegenden zu, beugte sich über ihn, streifte ihren Body bis zu den Hüften hinunter, nahm seine Hände, führte sie zu ihren Brüsten und presste sie dort fest an. Max konnte zweimal tief durchatmen, genoss für einen Augenblick das Gefühl in den Händen und seine es verursachende starke Erregung, ehe er ihre Zunge wieder in seinem Mund spürte.

Nun stand ihm das Vermächtnis der fetten Sissi bereits bis zum Hals. Er versuchte panikartig einen Schaltknopf in seinem Gedächtnis zu finden, der ihm ein Notprogramm einspielte. Fußball, Papstbesuch, Erdbeben, Wetteraussichten, Deneuve, Kurt, Zähneputzen, Kreuzworträtsel ... Die Bilder tauchten wie bei einem Diavortrag im Zeitraffer auf und verschwanden. Natalie hatte seine Wangen zangenartig umfasst und duldete keine Bewegung seines Gesichtes mehr. Ihre Zunge Schleuderte wild und feucht herum und spielte in seinem Mund Verstecken und Fangen.

Max war halb bewusstlos vor Übelkeit und der Angst vor ihren unausweichlichen Folgen. Wenn ihn Katrin so sehen würde. Würde sie schreien? Würde sie lachen? Hätte sie Mitleid? Würde sie ihn trösten? Seine Gedanken fanden plötzlich Halt. Max sah sie mit ihren schwarzen kurzen Haaren, wie sie ihm die Hand schüttelte und dabei anmutig mit dem Kopf nickte. »Hast du's schon einmal mit Stachelbeeren probiert?«, fragte sie ihn und hob dabei kokett die Augenbrauen. - Da hatte sie Recht. »Stachelbeerkuchen« klingt fast noch besser als »Birnenkuchen«, dachte Max. »Und Stachelbeeren schmecken eigentlich noch mehr nach gar nichts als Birnen«, meinte Katrin. - Natalie unterbrach ihren Kuss, leckte sein Gesicht, öffnete seine Hemdknöpfe, fuhr ihm mit kühlen gierigen Fingern in die Hose. Das Doppelklicken mussten die Druckknöpfe ihres Bodys gewesen sein. Die kalten Finger arbeiteten flink und professionell und verabschiedeten sich, als kein Platz mehr für sie da war. Ihr »Jaaa« war lang, heiser und erwartungsvoll gehaucht. Sie saß auf ihm, er war in ihr.

Er schloss die Augen und ließ seine Hände wie ferngesteuert alles tun, was ihr Seufzen und Stöhnen verstärken konnte. Ihm juckte der Angstschweiß im Gesicht, ein paar heftige Übelkeitsattacken hatte er bereits erfolgreich hinuntergewürgt. So lange hatte er sich noch nie gehalten. Ihre Bewegungen auf ihm wurden heftiger. Wieder konnte er kurze Zuckungen der Lust genießen. Da kam ihre Zunge auch schon seinen Hals hinaufgekrochen. Er presste sein Kinn hoch, um ihr den Weg abzuschneiden. Die Hürde nahm sie mühelos. Das Kussmartyrium ging weiter.

Max standen die Tränen in den Augen. Er versuchte es ein zweites Mal mit der Flucht zu Katrin. Wie war der Traum? Wo war er stehen geblieben? Katrin wollte Kurt und war dafür bereit, Max jeden Wunsch zu erfüllen. »Also sag schon, was soll ich tun?«, fragte sie ihn. Aus den Sehschlitzen ihres gelben Raumanzugs leuchteten ihre mandelförmigen Augen. (Hatte sie mandelförmige Augen?) »Du legst dein Hände auf meinen Nacken und fährst mit allen zehn Fingernägeln ganz langsam meinen Rücken herunter«, dachte er sich sagen. Wie sie ihn ansah! »Würdest du das für mich tun?«, dachte er sich fragen. - Da warf sie ihm einen durchdringenden Blick zu, holte Luft und schrie und hörte nicht mehr auf zu schreien: »Jaaa. Jaaa. Jaaa ...« - Natalie bäumte sich auf, riss den Kopf zurück, presste ihre Beine um seine Hüften, spreizte ihre Finger und stützte sich mit den Handballen an seinen Schultern ab. Noch dreimal, langsamer, nicht mehr so laut, schon etwas mehr bei Sinnen: »Jaaa. Jaaa. Jaaa.« Dann ließ sie sich erschöpft auf ihn fallen und legte ihr überhitztes Gesicht an seine Brust.

Max spürte, wie die Übelkeit ihren Spiegel senkte und an Stärke verlor. »Das war heftig«, hauchte Natalie. Sie hatte nichts bemerkt. Max weinte vor triumphaler Freude und ausgestandener Angst. Sicherheitshalber ließ er die Augen noch eine Zeit lang zu. Sicherheitshalber blieb er mit seinen Gedanken noch ein bisschen bei Katrin. Hätte sie es getan?

13. Dezember

Katrin wachte auf und fragte sich, wozu. Es begann ein Tag, von dem sie schon mit geschlossenen Augen wusste, dass er nicht heller werden würde, wenn sie die Augen öffnete. An solchen Tagen opferte man die Geborgenheit unter der Bettdecke für die Gewissheit, dass es außerhalb nichts Befriedigenderes geben würde, als Pflichten zu erledigen. An solchen Tagen unternahm man hundert Anläufe sich einzubilden, dass man es gut erwischt hatte, dass alles in Ordnung sei, dass man sich nicht beklagen dürfe. Das war das Allerschlimmste an solchen Tagen: Sie ödeten einen ununterbrochen an, vom Zeitpunkt des unseligen Aufwachens bis zur rettenden Umklammerung des Kopfpolsters in der darauf folgenden Nacht, und man durfte sich nicht beklagen, denn man hatte es gut erwischt.