Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Mozart sein Konzert vom Vorabend wiederholte, allerdings mit etwas größerer Lautstärke. In der Mitte des Raumes blieben sie stehen. »Was jetzt?«, fragte er. »Küss mich, Max«, sagte sie. »Muss das sein?«, fragte er. Lieber wäre er auf allen vieren durch den Esterhazypark gekrochen. »Ich weiß, dass es dir schwer fällt, aber ich wünsche es mir so sehr«, sagte sie. »Versuch es doch wenigstens.« - »Wozu die Augenbinde?«, fragte er. »Bitte küss mich!«, erwiderte sie. Das klang nach letzten Worten vor dem Verdursten. Er musste es rasch tun.
Er spürte ihre Hände um seine Hüften. Er spürte einen warmen Luftzug von unten. Er beugte sich zu ihr. Er griff nach ihren Wangen, fühlte ihre Lippen an seinen, spürte ihre Zunge in seinem Mund. Sie war zart und wendig und schmeckte nach Birnenkuchen. Birnenkuchen schmeckte nach nichts, das war erfreulich. Und eine schönere Frau hatte er noch nie geküsst und würde er nie wieder küssen. Das war ein zusätzlicher Trost. Er war bis in die Kuppen der beiden kleinsten Zehen in sie verliebt. Das brach seinen letzten Widerstand.
Es war ein langer Kuss, der ein paar Mal abrupt unterbrochen wurde. Zunächst hatte Max eher harmlose Übelkeitsanfälle. Die fette Sissi tauchte sporadisch auf, hielt sich aber zum Glück recht verschwommen im Hintergrund. Sie konnte sich vom schärferen Bild der erwachsenen Lisbeth kaum noch abheben. Dazu zeichnete Max in Gedanken die Fotolippen nach. Dabei schoss ihm die Blamage des Erwischtwordenseins in den Sinn. Warum hatte Katrin noch nicht danach gefragt? Warum wusste sie überhaupt, dass es ihm schwer fiel zu küssen? Warum hatte sie so lange auf den Kuss gewartet? Mit solchen Überlegungen ließ sich kostbare Zeit gewinnen.
Anfangs gab es Phasen, da ihm der Kuss gefiel. Er spürte dabei Katrins Körper, inhalierte ihre Gerüche, erinnerte sich an die letzte Nacht, freute sich auf die nächste und auf die übernächste und auf jede weitere. Irgendwann nahm sie seine Hände von ihrem Hals. Und auch ihr Körper berührte an keinem Punkt mehr seinen. Sie waren nur noch durch den Kuss verbunden, aber auch ihre Zunge begann sich von seiner zu lösen.
Plötzlich schien sich Katrin vollständig von ihm zurückgezogen zu haben. Er spürte und roch sie nicht mehr. Er hörte sie auch nicht, dazu klopfte Mozart zu dominant in die Tasten des Interpreten. Der Kuss hinterließ die Leere des Entzugs und wirkte übel nach. Max hatte Probleme, die Konturen der hämisch grinsenden fetten Sissi zu verwischen. »Katrin?«, fragte er und begann nach ihr zu tasten. »Ich bin bei dir«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie musste neben ihm gestanden sein.
Die Lippen, die er nun wieder an seinen spürte, erlösten ihn vom einsetzenden Kindheitstrauma. Katrin küsste jetzt mit vollerem Mund. Ihre Zunge war breiter und raumgreifender. Der Geruch war ein anderer, ein süßlicherer, und der Geschmack - der kam ihm auf seltsame Weise fremd und doch bekannt vor. Katrins Finger waren jetzt dicker und kühler und krochen von seinen Wangen behäbig die Schläfen hinauf, schlüpften unter die Augenbinde und schoben diese langsam zum Kopf Scheitel empor.
Max verspürte ein Gefühl des Unbehagens. Es war nicht die physische Übelkeit, die er kannte, aber es hatte den gleichen Ursprung. Es begleitete ihn zu seinen schlimmsten Albträumen zurück, erinnerte ihn an das ständig wiederkehrende grauenhafte Erlebnis. So nah wie jetzt war er ihm noch nie gekommen. Der Brechreiz war ausgeblieben, zu viele stärkere Eindrücke blockierten sein Gehirn.
Seine Augen waren jetzt frei. Eine schlimme Vorahnung ließ ihn sie noch eine Weile geschlossen halten. Dann öffnete er sie einen Spalt und sah . Das waren keine mandelförmigen Augen. Katrin hatte doch mandelförmige Augen, oder? Sie hatte keine blond gemeschten Haare, kein breites Gesicht, keine gedrungene Nase.
Die Frau war nicht Katrin. Sie war eine andere, eine fremde. Sie drückte ihn fest an sich und küsste gierig und stürmisch. Max war zu geschockt, um sich sofort von ihr abzustoßen. Katrin stand neben ihm. Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Und dahinter, die Medizinfrau, das war Paula. Ihre Augen leuchteten. Sie hatte Regie geführt, das wusste Max sofort. Was war das für ein Spiel? Machten sie sich einen Spaß mit ihm? Nein, dazu trugen sie zu ernste Mienen.
Der Kuss ging mit einem Schnalzgeräusch aus ihrem Mund zu Ende. Max war zu verblüfft, um Ekel zu verspüren. Die Frau war nicht fremd. Er hatte sie schon einmal gesehen. Sie hatte ... diese Lippen, die gleichen Lippen. Es waren die Lippen zu dem Foto. Das Foto zu ... Er hatte sie schon einmal geküsst.
»Lisbeth Willinger, sehr erfreut«, sagte sie und wischte sich, wie nach beendeter Mahlzeit, den Mund mit dem Handrücken ab. »Bravo Max«, rief Paula kühl wie die Chefchirurgin nach einem gelungenen Eingriff und klatschte in die Hände. Katrin umarmte ihn. Sie nahm seinen Kopf wie eine Mutter, dessen Kind sich eine schlimme Beule geholt hatte.
»Sehen Sie, er hat's gar nicht gemerkt!«, jubilierte Lisbeth Willinger. »Und damit habe ich mir tatsächlich den Flug verdient?«, fragte sie. »Das finde ich großartig, so etwas ist mir noch nie passiert. Dabei hat es mir Spaß gemacht, ehrlich! Was glauben Sie, wenn das mein Mann erfährt! Wo sind die Malediven? Wie viele Stunden habe ich noch? Wenn Sie wieder einmal jemanden brauchen ...« - Paula brachte sie zur Tür.
Kurt lag unter seinem Sessel und tat so, als würde er schlafen. Es war spät genug, um ans Wachsein zu denken. Er wartete, bis die Lichter ausgingen. Er wartete, bis Max im Bett lag. Er wartete - und das war neu -, bis Max und Katrin im Bett lagen. Er musste - und das war neu - länger warten als sonst. Es war - und das war neu - nicht sofort ruhig im Bett. Aber die Geräusche störten ihn nicht. Sie hinderten ihn nicht zu tun, was zu tun war. Sie würden irgendwann verstummen. Dann hatte er den Rest der Dunkelheit für sich, wie immer.
Er tat es vermutlich, seit es ihn gab. Er hatte die Nächte nicht gezählt, die er durchgemacht hatte, die er »davor« verbracht hatte. Langweilig? Niemals. Einschläfernd? Keinesfalls. Es war eine Spannung, die nicht nachließ. Ein Warten, das stets belohnt wurde, regelmäßig, pünktlich auf die Minute. Wer wollte Kurt erzählen, wie lange eine Stunde dauerte? Niemand auf der Welt konnte besser als er wissen, wann sie sich anschickte zu schlagen.