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Den Vormittag verbrachte Max im Einser-Büro und erstellte die »Max'sche Kreuzworträtselecke«. Um Zeit zu sparen, griff er auf eine Rätselecke vom August des Vorjahres zurück. Abkürzungen waren ja zum Glück zeitlos. Zu Mittag gab er im Zweier-Büro das aktuelle Kinoprogramm ein. Am frühen Nachmittag besorgte er einen Beißkorb. Eigentlich hätte er Kurt gern dabeigehabt, wegen der Größe. Aber es schneite leider und regnete.

Exakt zwei Minuten vor fünf hatte er die Tür der Ordination des Augenarztes Doktor Harrlich erreicht. Es hatte buchstäblich in letzter Sekunde sowohl zu regnen als auch zu schneien aufgehört. Max fühlte sich psychisch angeknackst und auch physisch schwer gezeichnet. Stufensteigen mit Kurt hieß, jede Stufe fünfmal zu steigen. Der Arzt residierte im zweiten Stock. Kurt fand zwar in jeden Fahrstuhl, aber er verließ kaum einen mehr; Feuerwehreinsätze dieser Art waren erfahrungsgemäß teuer. Jedenfalls lag Kurt, als sich die Tür öffnete, wie durch ein Wunder bei Fuß. Seine müde Medium-Schnauze hing in einem sportlichen XXLBeißkorb. So verwegen hatte ihn Max noch nie gesehen. Für die nächste Folge von »Treue Augenblicke« bot sich »Als Kurt seinen ersten Beißkorb trug« an.

Katrin erlebte die folgenden Minuten wie eine Szene aus einer Filmkomödie, in der ein verwirrter Außendienstmitarbeiter einer Elektrogerätefirma bei seinem ersten Auftrag einer Kundin einen Staubsauger als Nähmaschine verkaufen wollte und zu Demonstrationszwecken eine Gefriertruhe mitgebracht hatte. Sie öffnete die Türe und fing ein überfallsartiges »Guten Tag, mein Name ist Max und das ist Kurt« ein. Dabei zeigte der junge Mann auf eine dunkelbraune eingerollte Masse zu seinen Füßen, als deren Mittelpunkt das Drahtgestell eines Beißkorbes erkennbar war.

»Kurt beißt niemals«, versicherte der Mann überraschend traurig. »Er ist äußerst gutmütig. Er mag Menschen, er kann es vielleicht nicht so zeigen. Er ist ein bisschen schüchtern. Ihm macht auch das Wetter zu schaffen. Einmal Regen, dann wieder Schnee, dann wieder Schneeregen. Für so einen Hund ist das eine ständige Umstellung. Kurt ist nämlich sehr sensibel und reagiert ...«

»Und ich heiße Katrin«, unterbrach Katrin. »Angenehm«, erwiderte er, ein wenig irritiert. »Kommen Sie weiter«, sagte sie. Er zögerte, beugte sich zum Haufen Hund hinunter, als müsste er sich dort erst eine Eintrittsgenehmigung erteilen lassen. Dann legte er die Leine nieder und betrat den Warteraum. - »Der Hund kann auch hereinkommen«, sagte Katrin. »Danke, es schadet ihm nicht, vor der Türe zu liegen«, erwiderte der Mann. Katrin hatte das Gefühl, dass er es mit der Zucht ein bisschen übertreibe.

»Wenn ich ihn nehme, dann möchte ich ihn vorher einmal austesten«, sagte Katrin. - »Ehrlich«?, fragte der Besitzer. Er dürfte ein Nervenleiden in der rechten Schulter haben, bemerkte Katrin. »Wie oft muss er tagsüber gehen?«, fragte sie. »Zweimal, aber ...« Er zögerte. »Was aber?«, fragte Katrin. »Aber er kann es sich nicht merken«, erwiderte der junge Mann. - »Und schläft er in der Nacht?« - »Jaaa!«, rief der Besitzer und ballte die Fäuste wie ein Tennisstar, der sich wieder ins Spiel gebracht hatte. »Und was frisst er?« - »Jeden Abend zwei große Dosen Wildbeuschel«, erwiderte der junge Mann. »Er hat es gern, wenn man ihm die Schüssel unter die Schnauze legt.« Sein Herrl hatte gepflegte Zähne und seine Augen dürften gesund sein, sie konnten sogar lachen, bemerkte Katrin.

»Und was spielt er gern?« - »Verstecken«, erwiderte der Mann nach längerer Nachdenkpause. »Und >Blinde Kuh<, die Kuh ist immer der Mensch.« - Er hatte einen seltsamen Humor. - »Und woran muss man sonst noch denken, wenn man ihn hat?« - »Am besten an gar nichts«, entgegnete der Besitzer. »Man darf nur nicht auf ihn vergessen.« - »Klingt ziemlich einfach«, sagte Katrin. »Ja, er ist ein guter Hund«, antwortete der Mann nervös. »Ich werde mir die Sache überlegen und gebe Ihnen in den nächsten Tagen Bescheid«, sagte Katrin. »Das wäre fein«, erwiderte der Hundebesitzer. »Und ich würde ihn gern einmal auf den Beinen sehen«, sagte Katrin. - »Sicher«, sagte der Mann und lächelte bitter. Dann verabschiedete er sich. Der eingerollte Haufen vor der Tür hatte sich keinen Millimeter verschoben. »Er ist ein guter Hund«, wiederholte der Mann und zog kräftig an der Leine. Er hatte leicht abstehende Ohren - der Mann. Vom Hund hatte Katrin keinen Eindruck. Das war der beste Eindruck, den sie sich hatte vorstellen können.

6. Dezember

In der Nacht zum Nikolaustag hatte es geschneit und der Schnee war liegen geblieben. Kurt ebenfalls. Der Schnee würde laut Prognose zu Mittag bereits geschmolzen sein. Kurt nicht.

Max war müde. Er hatte nicht einschlafen können, weil er sich zu sehr bemüht hatte, an nichts zu denken. Dabei war sein Gehirn wachgerüttelt worden. In der Früh, als das Gehirn endlich einsah, dass Schlaf notwendig war, setzten draußen die Schneeschaufeln ein. Und ihnen war völlig egal, ob Max schlief oder nicht. Davor hatte er noch einen Albtraum untergebracht. Er hatte versucht, Katrin, die junge Frau, die ihm den Hund über die Weihnachtsfeiertage vermutlich nicht abnahm, zu küssen. Dabei war ihm schlecht geworden. Er hatte sich mit dem Ausdruck des Bedauerns von ihr abwenden müssen.

Der Traum hatte Geschichte. Er verfolgte ihn seit seiner Kindheit. Max kannte ihn in gut hundert Variationen. Das heißt: Der Traum selbst variierte nicht, nur die weiblichen Darsteller, früher Schulmädchen, dann reifere Teenies, danach erwachsene Frauen, darunter all seine Liebschaften und all seine »Frauen fürs Leben«, die es allesamt nicht geworden waren. Wann immer Max einer Frau begegnete, die ihm gefiel, die er begehrenswert fand oder in die er sich gar zu verlieben drohte, träumte er, dass er versuchte sie zu küssen und dass ihm dabei schlecht wurde. Träumte er es intensiv, musste er sich tatsächlich übergeben. (Bei Katrin wurde der Traum dank der Schneeschaufeln nicht intensiv.)

Was die Handlung betraf, war Max bereits abgebrüht. Der Albtraum selbst konnte ihn nicht mehr erschüttern. Schon viel eher der Umstand, dass Max dabei die Wahrheit träumte. Aber damit lebte er nun auch bereits seit 25 Jahren.

Weil Buben auch immer die wahnwitzigsten Mutproben benötigen, um in den Sommerferien nicht an Langeweile zu sterben! - Max war damals neun. Seine Bande, die »Dreckigen Totenkopfpiraten«, hatte bereits alle Feinde in den umliegenden Gemeindebauten vernichtet. Die Verlierer traten automatisch den »Dreckigen Totenkopfpiraten« bei. Das war für die jeweiligen Besiegten zwar erfreulich demütigend, hatte aber den Nachteil, dass die Feinde langsam ausstarben.

Am Höhepunkt der feindlosen Fadesse beschlossen die »Dreckigen Totenkopfpiraten«, die fette Sissi zu kidnappen. Die fette Sissi war acht Jahre alt und mindestens dreimal dicker als ein Mädchen, von dem man gemeinhin sagen würde, es sei dick. Ihr Gesicht bestand aus fünf übereinander gewölbten Schichten reinem Schweinefetts. Ihre Augen waren im Speck versunken und sahen nur noch das Notwendigste: Essen. Ihr Mund war ein (vermutlich mit Sonnenblumenöl gefülltes) Schlauchboot. An den Mundrändern klebten Reste gut gelagerter Eierspeisen. Aus dem Inneren roch es ungefähr nach einem Gemisch aus Leberwurst mit Zwiebelsenf und Hering mit Knoblauch. Genau konnte es keiner sagen, niemand wagte sich nah genug an die fette Sissi heran.

Der Plan war leichter als die Durchführung. Schließlich überwältigten die fünf tapfersten »Dreckigen Totenkopfpiraten« die fette Sissi, die gerade eine Kümmelbratensemmel in Arbeit hatte, mit drei zusammengebundenen Zeltplanen, packten sie sorgsam ein und schafften sie ins Hauptquartier. Sissi selbst, und das irritierte die Piraten ein bisschen, fand die Aktion aufregend und war schon gespannt, was man sich mit ihr einfallen lassen würde; hoffentlich ließe man sie nicht hungern. Max selbst war es, der auf die Idee mit dem ZK (Zungenkuss) kam. Heute würde er sich dafür am liebsten die Zunge abschneiden.