Die »Dreckigen Totenkopfpiraten« fanden die Idee, Sissi zu küssen, genial und wussten, dass dies der Saisonhöhepunkt sein würde. Max hatte natürlich nicht an sich selbst, sondern an einen besonders üblen Feind gedacht, den man auf diese schreckliche Weise grausam foltern könnte. Aber wie gesagt: Feinde gab es keine mehr. Und plötzlich waren sich alle einig, dass Max die ideale Besetzung für einen Zwangs-ZK mit der fetten Sissi wäre. Denn er war der mit Abstand hübscheste, zarteste und sauberste »Dreckige Totenkopfpirat«. Er war der Ästhet unter ihnen, der Schöngeist, der Intellektuelle, das Toten- kopfpiratenhirn. Bei ihm war der Kontrast zur fetten Sissi und somit auch die Vorfreude der Gruppe auf einen gemeinsam zu erlebenden ZK am größten.
Zwei Stunden weigerte sich Max beharrlich. Dann hatten sie ihn so weit. Sie wollten ihn im Falle der Verweigerung nicht nur für Lebzeiten aus der Bande ausschließen. Sie drohten, in der Schule Plakate mit der Botschaft auszuhängen, dass er, Max, jeden zweiten Tag in die Hose mache und dass er in die Frau Lehrerin Obermaier mit den Spinnenhänden verknallt sei. Also überwand sich Max und schickte sich an, die fette Sissi zu küssen.
Er schloss die Augen ganz fest und zwang sich, an Milchrahmstrudel mit Vanillesauce zu denken. Plötzlich spürte er, wie sich eine gallertige Masse üblen Geschmacks um seine Zunge legte, wie aus Speichelsekreten lauwarme verfaulte LeberwurstHering-Extrakte traten und sich fettfaserartig in seinem Mund verteilten. Da riss er die Augen auf, blickte in süchtige Schweinsaugen und sah das volle Ausmaß der Katastrophe. Die fette Sissi hatte ihr Schlauchboot an seinem Mund festgesaugt und schickte sich an, mit kräftigen Saugbewegungen sein gesamtes schmales Gesicht zu verschlingen. Dabei strich sie mit ihrer Zunge gierig über Nase, Augen und Schläfen, landete dann wieder bei seinem Mund und stieß noch einmal kräftig hinein. Die »Bravo-Max-der-Küsser-König-der-Max-der-kann's-der-Max-der-hat's«-Rufe im Hintergrund wurden immer schriller, ehe sie halluzinatorische Klangfarben entwickelten.
Max verlor das Bewusstsein und kippte auf die fette Sissi, fiel also wenigstens weich. Als er zu sich kam, lag er im Spital der »Barmherzigen Schwester Elisabeth«. Die Ärzte diagnostizierten eine »bösartige Fleisch- oder Fischvergiftung«. Erst nach einer Woche konnte er in häusliche Pflege entlassen werden. Die Darmflora brauchte drei Jahre, um sich wieder aufzubauen. Nach weiteren fünf Jahren konnte Max erstmals Fleisch- und Fischspeisen zu sich nehmen, ohne sie postwendend von sich zu geben. »Milchrahmstrudel mit Vanillesauce« probierte er nie wieder.
Die »Dreckigen Totenkopfpiraten« hatten sich nach diesem Vorfall aufgelöst und gingen in die Kirche, um zu beten und zu beichten. Sissi soll in der Zwischenzeit hundert Kilo abgenommen haben, dürfte also eine mollige Frau geworden sein. Max konnte seit damals an keinen Zungenkuss denken, ohne Übelkeit zu verspüren. Er konnte verliebt sein, sosehr er wollte. Er konnte erregt sein, so stark er wollte. Es konnte die Situation danach schreien, so laut sie wollte. - Max konnte nicht küssen.
Einmal hatte er es probiert. Er war achtzehn und stand knapp vor der Matura. Sie hieß Finni, ging in die Sechste, war sicher das selbstbewussteste und wahrscheinlich das schönste Mädchen der Schule, hatte kurze blonde Haare und trug die engsten T- Shirts, die ein Mädchen damals tragen konnte, ohne gar keine zu tragen. Seit Wochen wurde Max mit dem Gerücht konfrontiert, Finni aus der Sechsten hätte ein Auge auf ihn geworfen. Schon die Formulierung des Gerüchts brachte ihn aus der Fassung und ließ sein Herz heftig klopfen. Denn ein von Finni geworfenes Auge galt in Liebhaberkreisen als unerschwinglich wertvoll. Und Finnis Liebhaberkreise umfassten die gesamte Oberstufe, hundert fiebrig pubertierende Schulbuben, in deren Köpfen sich täglich tausend unerfüllbare Finni-Phantasien regten. Nur ein Bruchteil davon war jugendfrei.
Max hätte nie gewagt, Finni anzusprechen, schon gar nicht in der Hofpause, vor all den hormonschub- trächtigen Mitschülern. Finni war es, die plötzlich neben ihm stand und fragte: »Wie heißt du?« - »Er heißt Max«, sagte Schwätzer Günter, der hervorgeprescht war, um aus Max' Sekundenlähmung Kapital zu schlagen. Aber Finni sah nur ihn. Und wie sie ihn ansah! Ihre Blicke kamen von unten (Finni war fast zwei Köpfe kleiner als er) und wurden aus faszinierend klaren Augen auf die Reise geschickt. Sie spannten einen hohen Bogen, streiften sanft über seinen Nasenrücken, hoben ab, stiegen neuerlich an, streichelten seine Augenbrauen, krümmten sich und legten sich in steilem Winkel von oben in seine Augenbetten, hintergruben diese zart und landeten auf dem Seeweg der Augenflüssigkeit in seinem Kleinhirn, wo sie bald sehr viel Platz einnahmen. In der Literatur nennt man solche Blicke zumeist »verführerisch«, »fesselnd« oder »verzehrend«. Aber das sind plumpe Untertreibungen. Max war sofort verliebt.
»Bist du schüchtern?«, fragte Finni. »Ich weiß nicht«, erwiderte Max. (Wegen dieser Antwort wälzte er sich eine Nacht lang unruhig im Bett.) Die Mitschüler grinsten stupide und boxten einander stumpf auf die Schultern. »Gehst du gern ins Kino?«, fragte Finni. Bei »Kino« ging sie mit ihrer überraschend tiefen, fast heiseren Stimme hoch hinauf und warf ihm drei ihrer Blicke gleichzeitig zu, wobei sie auch noch den Kopf leicht verdrehte, wodurch die Blicke einen zusätzlichen Seitwärtsdrall bekamen. In Finnis Wort »Kino« steckte bereits das volle Programm an sexuellen Wunschvorstellungen eines 18-Jährigen.
»Ja, wenn es einen guten Film spielt«, erwiderte Max, diesmal mit etwas mehr Stimme. Die Antwort fand er den Umständen entsprechend gar nicht so schlecht. Vielleicht klang sie ein bisschen zu vernünftig. »Gehst du mit mir?«, fragte Finni. Der Satz elektrisierte ihn. Hatte sie »ins Kino« absichtlich weggelassen? - »Ja, gern«, erwiderte Max bemüht nebensächlich. Beinahe hätte er »Wenn es einen guten Film spielt« angefügt. Das hätte er sich nachher nie verziehen.
»Morgen Abend?«, fragte Finni. Langsam gewöhnte er sich an die knappen Intervalle der Weltsensationen. »Na sicher«, sagte er und versuchte ihr locker zuzuzwinkern. Zum Glück hatte sie es nicht bemerkt. Man einigte sich auf sieben Uhr vor dem neuen Kinocenter. Zur Verabschiedung nickte sie aufwühlend und peitschte ihm noch eine letzte Blickserie ins Gesicht. Danach wurde er von seinen Mitschülern mit Boxschlägen und animalischem Gegröle als Frauenheld gefeiert.
Beim Treffen trug Finni das engste ihrer zu engen T-Shirts. Sie war leicht geschminkt, roch nach Walderdbeeren und sagte, sie hätte keine Lust auf Kino. Bei ihr daheim gäbe es Bier, ihre Eltern seien aufs Land gefahren, sie hätten die Wohnung also für sich allein, später würden ein paar Freunde und Freundinnen dazukommen. Aber erst sehr viel später.
Max war so verliebt, dass er sich widerstandslos zu ihr heimtreiben ließ. Er hatte keine Zeit zu überlegen, ob er verantworten konnte, dass er machen wollte, was er sogleich machen würde. Er sah das gelbe Sofa, die vorbereitete Kerze, die Decke. Sekunden später saß Finni auf ihm, schlang ihre Arme um seinen Hals und streichelte seinen Nacken. Ihre Augen waren nur noch ein paar Zentimeter von seinen entfernt und schleuderten ihm in Zehntelsekundenabständen erotisierende Blicke entgegen.
Sie legte ihre Handinnenflächen auf seine Wangen und zog sein Gesicht sanft zu ihrem Mund. »Mach die Augen zu, du Süßer«, war das Letzte, was er von ihr hörte. Dann vermischten sich die schrecklichsten Gerüche der Kindheit und bildeten einen Brei, den er aus der Tiefe seines Magens langsam hochsteigen spürte. - Milchrahmstrudel mit Knoblauch, Leberwurst mit Hering, Vanillesauce mit Zwiebelsenf, Küchenmeisterin Sissi wünschte guten Appetit! - Gerade noch rechtzeitig konnte er seine Zunge von jener Finnis lösen, ihren Mund verlassen und seinen Kopf zur Seite drehen.