Выбрать главу

Katrins Vater verkaufte. Niemals eigene Sachen, er hatte keine. Er verkaufte Dinge, die ihm nicht gehörten, und bekam ein bisschen Geld dafür. Er war (und blieb) Vertreter. Er vertrat alles, was gerade noch vertretbar war: Schuhbänder, Zeitungsständer, Insektensprays, Rumkokosdragees, Seniorenmagazine, Niederdruckventile. Er ging von Tür zu Tür. Die wenigsten öffneten sich. Erwischte er eine Hand, so ließ er sie nicht mehr los.

Wichtig war ihm, dass die Leute sein Gesicht sahen, dann sahen sie auch den Mund und bald auch die Sache darüber. An Rudolf Hofmeisters Oberlippenbart blieben die Blicke wie Fliegen im Spinnennetz hängen. Es war der schmälste, schütterste und leichtgewichtigste Oberlippenbart, vor dem sich jemals eine Tür schwungvoll geöffnet hatte, ohne dass der Bart über die Oberlippe segelnd zu Boden gefallen wäre. Die Leute wussten gleich: Diesem Mann fehlten wertvolle Proteine. Man musste ihm also dringend etwas abkaufen. Leider passierte es viel zu selten, dass jemand seinen Oberlippenbart zu Gesicht bekam.

Die Rhetorik war nur Nebensache. Hofmeister wählte zumeist: »Grüß Sie, Hofmeister. Ich bin hier, um Ihnen eine Minute Ihres Lebens zu stehlen.« - Den meisten stahl er damit nur ein paar Sekunden. Aber das war eben der Beruf.

Der Traum des jungen Hofmeisters war es, mit einem Schlag reich zu werden. (Er hatte nie behauptet, dass er sonderlich originell träumte.) Am 27. Juni sollte der Traum in Erfüllung gehen. Hofmeister stand unmittelbar davor, 1800 vollautomatische Wäschetrockner der Firma »Wetnix« zu verkaufen. Es fehlte nur noch die Unterschrift des Geschäftsführers des großen Waschmaschinenerzeugers »Multoclean«.

Zur Technik der »Wetnix«-Wäschetrockner ist anzumerken, dass sie nicht ausgereift war. Die Geräte waren doppelt so groß und dreimal so schwer wie Waschmaschinen. Und die Wäsche brauchte etwa dreimal länger um zu trocknen, als hätte man sie im Freien aufgehängt. Bei »Wetnix« selbst rechnete man mit dem Verkauf von jährlich höchstens fünf Stück. Hofmeister waren sechs Prozent des Erlöses für jeden verkauften Trockner zugesichert worden. »Wetnix« hatte zuvor ein halbes Jahr vergeblich nach einem Vertreter gesucht.

Wie er es anstellte, »Multoclean« 1800 Stück zu verkaufen? Nun, es war ihm gelungen, den Blick eines kleinen Mitarbeiters auf seinen Oberlippenbart zu lenken. Bis sich der Blick löste, brachte er folgende Sätze unter: »Grüß Sie, Hofmeister. Ich bin hier, um Ihnen eine Minute Ihres Lebens zu stehlen. Wäsche waschen können alle. Wäsche trocknen können wir. Ohne Wetnix geht nix! Nehmen Sie uns dazu. Machen Sie Nägel mit Köpfen!« Der Mitarbeiter hörte sich das an und meinte, er werde seinem Chef vorschlagen, ein Gerät probeweise zu mieten.

Am nächsten Tag rief der Chef persönlich bei Hofmeister an und fragte: »Sie haben Wäschetrockner?« - »Nein, ich vertrete Sie nur«, antwortete Hofmeister. »Funktionieren sie?«, fragte der Chef. »Ich würde nie ein Produkt vertreten, das nicht funktioniert«, log Hofmeister. »Gut, wir kaufen 2000 Geräte.« - »So viele haben wir nicht«, sagte Hofmeister panisch und verlor vor Aufregung mindestens drei Barthaare, also etwa ein Zehntel des gesamten Bestandes. »Gut, dann 1800 Stück!«, erwiderte der Chef. »Morgen unterschreibe ich Ihnen. Kommen Sie zu mir. Bringen Sie einen Trockner mit. Ziehen Sie Ihr bestes Sonntagsgewand an. Wir drehen einen Live-Werbespot. Wir werden die Konkurrenz schockieren. Da wird kein Auge trocken bleiben.« - »Sehr fein, machen wir Nägel mit Köpfen!«, schloss der junge Hofmeister. Nach dem Telefonat wurde er bewusstlos vor Glück.

Der nächste Tag war besagter 27. Juni, an dem sich für ihn die Zukunft entscheiden sollte. Bei »Wetnix« kühlte man den Sekt ein. Der VorzeigeTrockner war geliefert. (Die restlichen 1799 Geräte würde man in den nächsten Wochen schon irgendwie produzieren.) Der junge Hofmeister selbst hatte sich vom prominentesten Herrenausstatter taubengrau einkleiden lassen. Zur Unterschrift vor laufender Kamera fehlten nur noch zehn Minuten. Das »Multoclean«-Gebäude war erreicht. Hofmeister nahm auf einer Parkbank davor Platz und übte im Geiste den Händedruck eines Millionärs. Dazu stieß er immer wieder kraftvolle »Jawohl«-Rufe aus und klopfte sich dabei bekräftigend auf die Oberschenkel. Das dürfte der Hund, der plötzlich aus dem Gebüsch aufgetaucht war, missverstanden haben. Er glaubte, er solle Platz nehmen.

Als es zu spät war, lag er wie ein schwarz lackiertes Kugelgebüsch auf Hofmeisters Schoß und streckte eines seiner Hinterbeine von sich. Hofmeister reagierte sofort, sprang auf und schleuderte den Hund wie einen (schwarz lackierten, buschigen) Medizinball mit der Hüfte ins Jenseits des grünen Rasens. Der dunkelgraue nasse Fleck auf der Hose blieb als Andenken an diese kurze Begegnung zurück. Er war medizinballgroß und lief zudem die Hosenbeine bis zu den Knöcheln hinunter. Das letzte Mal, als Hofmeister so ausgesehen hatte, war er sieben Jahre alt gewesen und hatte sich weitere sieben Jahre dafür geniert. Damals war er allerdings nicht zwei Minuten vor dem Augenblick gestanden, an dem sich für ihn die Zukunft entscheiden sollte.

Die Zukunft entschied sich innerhalb von wenigen Sekunden. Hofmeister betrat »Multoclean«, wurde von einem hektischen Herrn im schwarzen Sakko begrüßt und an der Hand in einen hell erleuchteten Nebenraum geführt. Der Mann klatschte dreimal in die Hände und sagte: »Kinder, nehmt die Plätze ein, in drei Minuten sind wir auf Sendung.« - »Ein Problem noch«, meldete sich Hofmeister mit krächzender Stimme, »ich benötige dringend eine trockene Hose.« Nun sahen sie es alle gleichzeitig und jeder wusste: Er hatte Recht. Aber nur einer reagierte, der Wichtigste - und zwar so zornig, dass Hofmeister spontan fünf Barthaare verlor. Die insgesamt dreizehn Schreie des »Mul- toclean«-Chefs bildeten eine Art rhetorische Frage. Sie lautete: »Dieser - Mann - hier - in - der - angebrunzten - Hose - will - mir - allen - Ernstes - Wäschetrockner - verkaufen?« Danach setzte hysterisches Gelächter ein. Antwort fiel keine mehr. Der TV-Spot wurde abgeblasen, das Geschäft war geplatzt. Die nächsten dreißig Nächte träumte Hofmeister von Hunden. In guten Träumen schaffte er bis zu fünfzig Ritualmorde.

»Es ist nicht mein Hund«, wiederholte Katrin nach einer weiteren Verarbeitungspause. Die Mutter hatte ihre Stirn in zwölf Falten gelegt. (Man konnte sie leicht zählen, denn die Entfaltung trat meist erst nach mehreren Stunden ein. Zwölf Falten schaffte die Mutter selten. Auf über fünfzehn kam sie nur bei vermeintlichen Schwiegersöhnen, mit denen Katrin gerade Schluss gemacht hatte.) »Warum?«, fragte der Vater Katrin beinahe stimmlos. Er meinte damit weder: »Warum ist es nicht dein Hund?« noch »Warum hast du zu Weihnachten einen Hund?« Er meinte eher allgemein: »Warum gibt es Hunde?«, im Sinne von »Warum zerstören sie unser Leben?« Katrin antwortete: »Ich hab ihn nur über die Weihnachtsfeiertage. Es ist ein Notfall.« - »Wem gehört er?«, fragte die Mutter und glättete von innen die beiden äußersten der zwölf Falten. »Einem alten Freund von mir«, erwiderte Katrin. »Er muss dringend verreisen.« - Wie heißt er?«, fragte die Mutter. »Der Hund?«, fragte Katrin. »Der alte Freund«, erwiderte die Mutter. (Bei »alte« tauchten die beiden äußeren Falten wieder auf.) »Max«, sagte Katrin gleichgültig, »ein alter Studienkollege«. - »Von einem Max hast du nie erzählt«, behauptete die Mutter. »Hab ich nicht?«, fragte Katrin. »Nein«, wusste die Mutter. »Ist er verheiratet?« - »Keine Ahnung«, sagte Katrin, gähnte, schaute auf die Uhr und musste noch dringende Einkäufe erledigen. - »Wegen Weihnachten reden wir noch, Goldschatz«, drohte die Mutter. »Warum nur, Maus?«, fragte der Vater.