— Es gibt seltsamere Sachen als diese.
— Gewiß, aber ob wir einer Lüge glauben, hängt nicht allein von ihrer Größe ab.
— Unsere Rückkehr nach Ujiji war sehr unangenehm. Bwana Burton, er war dem Tode entronnen, er hatte etwas Schwieriges vollbracht, also erwartete er von uns, unsere scheinbar leichte Aufgabe erledigt zu haben. Er war entsetzt, Bwana Speke war niedergeschlagen, sie sprachen einige Tage nicht miteinander, dann entschieden sie, den See trotzdem zu erkunden, und so stiegen wir wieder in die Kanus, dreiunddreißig Tage waren wir unterwegs, nur um aus zuverlässiger Quelle zu erfahren, der Ruzisi fließt in den See hinein, und wenn einer von uns geglaubt hatte, dies sei der Endpunkt der Enttäuschung, wurde er bei unserer neuerlichen Rückkehr nach Ujiji eines Besseren belehrt, denn in den dreiunddreißig Tagen unserer Abwesenheit war der treue und gutherzige Said bin Salim …
— Von dem du sagst, er hätte seine eigene Mutter verschachert?
— Genau der, er war zu der Erkenntnis gelangt, die Wazungu seien bestimmt gestorben und keiner könne es ihm verübeln, wenn er einen Großteil des Proviants verkaufte. Wie sollten wir nach Kazeh zurückkehren, ohne Nahrungsmittel, ohne Tauschware? Sollten wir betteln oder rauben? Es gab keine Lösung, je länger wir nachdachten, desto klarer wurde uns unsere Ausweglosigkeit, und doch wurde sie mit einem Schlag verscheucht, oder besser gesagt, von einigen Gewehrsalven zerrissen, Schüsse, die wie gewohnt die Ankunft einer Karawane verkündeten, und tatsächlich, diese Karawane schleppte den Nachschub mit, den Bwana Burton vor langer Zeit angefordert hatte, nicht die richtige Munition zwar, doch immerhin Stoff genug, um Nahrung für unsere Rückreise nach Kazeh zu erwerben.
Auf der Rückreise nehmen sie einen anderen Weg. Dem Sumpf am Malagarasi setzt man sich nur einmal aus. Die Idylle, denkt Burton, ist eine Tasse mit schmutzigem Rand. Tee in der Tasse, kalte Hühnerbrühe in der Untertasse. Flecken auf der Zungenspitze. Bitter ist die Zeit, denkt er, und er nimmt sich vor, dem Denken abzuschwören. Zumindest, bis sie Kazeh wieder erreicht haben. Hast du die Mücke gesehen, ruft Speke, sie war riesig, wirklich riesig, so eine Mücke hast du noch nie gesehen. Was muß das Land arm sein, daß Speke sich mit Mücken abgibt. Am Wegrand ein ausgehöhlter Baum, breit auseinandergerissene Lippen, aus denen ein ovaler Schrei dringt. Was für Eigenarten werden unter den frisch geschnittenen Dächern aufbewahrt? Der erste, dem sie begegnen, geht am Stock, das bedarf keiner Erklärung, sein Gebrechen, das Bein, das er abstützt, die Haut verschrumpelt wie Rinde, das Knie nicht mehr zu sehen, dieser Mann hat links das Bein eines Elefanten und rechts das Bein eines Menschen, und er ist jung, sein Gesicht sieht gesund aus, völlig gesund, kein bißchen verhärmt trotz seines verkrüppelten Beins, das er herumschleppen muß, das ihn verurteilt, ein Aussätziger zu sein in diesem Dorf, wer will so etwas Widerliches sehen. Der nächste Dorfbewohner hat ein ähnliches Gebrechen, am anderen Bein, das noch schlimmer verwachsen ist, nur die Zehen menschlich geformt, die Schwellung beginnt am Spann. Die Haut ist verdickt und entzündet, an manchen Stellen eingerissen, an anderen aufgeplatzt. Der dritte läßt seinen Atem stocken, er steht auf zwei Elefantenbeinen, sein Oberkörper ist ausgemergelt, es kann nicht anders sein, als daß sein Oberkörper abmagert ist, je mehr seine Beine auswabbelten. Alle sind so, wird ihm schlagartig bewußt, alle Bewohner dieses Dorfes, die stumm vor ihren Hütten sitzen oder ohne Gruß an ihnen vorbeihinken, jetzt sieht er es, Ellbogen verschwunden, Oberarm ein aufgeweichter Kürbis, Unterarm ein breiter Schlauch mit Wasser, der von dem Knochen hinabhängt, linke Brust angeschwollen fast bis zum Oberschenkel, Gekröse über Haut gekrochen, über die rechte Brust, über das linke Bein, oder umgekehrt, das Falsche in allen Kombinationen, in diesem Dorf. Das Kranke nach außen gewandt, das Dämonische. Als herrsche in ihren Körpern Hochwasser.
Er erblickt einen Mann mit Kopfschmuck, als einziger sitzt er auf einem Hocker, um ihn herum Männer und Frauen im Sand, bestimmt der Phazi, mit einem entspannten Ausdruck auf dem Gesicht trägt er etwas Unverständliches vor, und er versteckt nichts, seine Hoden sind so groß wie ausgewachsene Papaya, der linke Oberschenkel hängt hinab wie ein übervolles Euter, der rechte Unterschenkel überzogen von Geschwüren, wie die Würmer, die sich im Inneren des Körpers schlängeln, und am Ende seines Beins ein Klumpfuß, ohne Zehen, ohne Ferse. Alles ist klar, denkt Burton, ich habe das Herrschaftsprinzip begriffen, in diesem Dorf wird derjenige Häuptling, der den größten Hodensack hat. Er würde gerne halten, mit diesen Menschen reden, ihnen erklären: Die Götter belieben zu scherzen, sie begehen Fehler, sogar bei ihren eigenen Söhnen, ihr kennt Ganesh nicht, erlaubt, daß ich euch von ihm erzähle, sein Zustand hat mit dem euren durchaus etwas gemein. Burton wird weitergetragen, von seinen Schritten, von der unaufgeregten Bewegung der Karawane, als hätten die anderen es nicht gesehen, nicht bemerkt, daß selbst die Beckenglieder der Maultiere in diesem Dorf verdickt sind, ausgeweitet, als seien Esel mit Elefanten gekreuzt worden, und ihn quält eine Frage, sie quält ihn wie ein Sandkorn unter der Fußsohle, etwas, das ihn an dem Anblick des Phazi verstörte, der Penis, es fällt ihm ein, wo war der Penis, er spricht es laut aus, ich habe den Penis nicht gesehen. Und Speke, der neben ihm hergeht — wie lange schon? — , sagt: Das müssen wir nicht wissen.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Fühlt ihr auch, meine Freunde, wie es kalt wird? Es ist die Jahreszeit, natürlich, und es ist mehr als nur die Jahreszeit. Ich habe das Gefühl, als würde die Kälte von diesem Stein aufsteigen und in meinen Körper dringen. Es gibt Abende, an denen kann ich mich nicht wärmen, egal, wie viele Umhänge die Mutter von Hamid mir um die Schultern legt. Die Kälte, sie setzt sich nicht im Fleisch fest, nein, sie dringt in die Knochen ein, keiner hat mich gewarnt, wie kalt die Knochen werden können, wie kalt das Knie und der Schädel werden können, so kalt, ich habe das Gefühl, ich bin ein gelähmter Fisch, der auf dem Grund des Meeres liegt, und nur noch sein Maul bewegen kann, bis auch seine Zunge zu einem Knochen wird.
— Nun übertreibst du aber, Baba Sidi, deine Zunge ist wahrlich weit davon entfernt zu erstarren.
— Auch das, was uns unfaßbar erscheint, wird eines Tages geschehen.
— Wir werden es erwarten.
— Und solange wir warten, werden wir dir zuhören.
— Und ich werde weiterreden, seid unbesorgt, macht euch keine falschen Hoffnungen, obwohl, manchmal überkommt mich der Verdacht, meine Worte hätten meine Schritte überholt, meine Berichte von den Ereignissen hätten die Ereignisse in den Schatten gestellt. Das erinnert mich an einen Jungen, als ich klein war, in meinem ersten Leben, er hat meinen Schatten festhalten wollen, er hat mich gebeten, still stehenzubleiben, und er hat mit seinen kleinen Händen die Erde aufgekratzt, genau da, wo mein Schatten hinfiel, er grub, bis seine Hände ganz verschrammt waren, und als er glaubte, fertig zu sein, stellte er fest, mein Schatten hatte sich verändert. Also grub er weiter, jeder Veränderung des Schattens folgte er, bis ihm die Kraft ausging und mir die Geduld, und wir traten zurück, um den Schatten zu betrachten, den er festgehalten hatte, und es war eine Grube ohne Form, auf die wir blickten, sie sah nicht aus wie irgendeiner meiner Schatten, der Junge war traurig, und ich habe vorgeschlagen, Früchte pflücken zu gehen. Dieser Junge, ich kann ihn nicht vergessen, er war nicht unter jenen, die gefangen wurden von den Arabern an jenem Tag, an dem mein erstes Leben starb, und ich habe mich oft gefragt, welche Schatten er in seinem Leben geworfen hat, und wenn ich träume, träume ich auch davon, diesen Jungen noch einmal zu treffen, wir beide als alte Männer, und ich würde ihn bitten, mir alles von sich zu erzählen, und dann würde ich das Leben, das mir geraubt wurde, in Fleisch und Blut vor mir sehen, von dem Menschen gelebt, der es nicht geschafft hat, meinen Schatten festzuhalten, der es nie schaffen wird, denn in meinem wirklichen Leben habe ich keinen Schatten mehr geworfen. Durch ihn würde ich sehen, was für Schatten ich geworfen hätte. Es ist ein schöner Traum und ein häßlicher Traum, so sind meine Träume, sie sind wie Gerichte, die von einer zugleich verliebten und einer verlassenen Frau gekocht worden sind, Gerichte, süß wie Zucker und scharf wie die Schote eines Baobabs, der auf dem Friedhof wächst. Wie einer der anderen Träume, von denen ich mich nicht lösen kann, der Traum von dem See und dem Reiher, der eigentlich kein Traum ist, sondern der unverrückbare Schatten einer Erinnerung. An den zweiten See, um genau zu sein, an einen schönen Vogel. Es gab nämlich diesen zweiten großen See, es gab ihn wirklich, so wie es uns die Araber in Kazeh versichert hatten, und Bwana Speke und ich und einige der Träger, wir erreichten diesen See nach einem halben Monat Marsch, Bwana Burton war in Kazeh geblieben, vielleicht wegen seiner Krankheit, vielleicht weil er die Gesellschaft der Araber der von Bwana Speke vorzog. Wir standen auf einem kleinen Hügel, und er lag vor uns, der zweite große See, und wir waren weniger erschöpft und weniger verzweifelt und weniger aufgeregt als an dem Tag, an dem wir den ersten großen See gesehen hatten. Wir alle, außer Bwana Speke, der auf einmal wie verwandelt war. Schon der erste Blick zeigte uns, dieser See war größer als jeder andere See, den wir kannten, den Bwana Speke kannte, er war größer als der erste See. Wir standen am Ufer und staunten über das Wasser, das kein Ende nahm, es raschelte in unserer Nähe, ein Reiher flatterte vor uns aus dem Schilf auf, seine ersten Flügelschläge schwappten schwerfällig, als seien seine Flügel eingeschlafen, ein schlanker Vogel, der das Gesetz nicht kannte, das Gesetz, das lautet, kein Tier darf ungestraft vor den Augen von Bwana Speke fliegen oder laufen. Der Reiher erhob sich in die Lüfte, vor unseren Augen, er gewann an Geschwindigkeit, mit Zuversicht glitt er über uns hinweg, ein grauer weißer brauner Vogel mit einem Schnabel, wie die Nadel eines Kompasses. Bwana Speke war überaus zufrieden, das konnten wir ihm ansehen, sein Herz durfte sich selten auf seinem Gesicht zeigen, er versteckte es wie manche Männer ihre Ehefrauen, aber an diesem Ufer legte es alle Schleier ab. Dies ist, was wir gesucht haben, sagte er feierlich, und er streckte seine Hand aus, als wollte er sie auf den See legen, er war wirklich glücklich, und wir, wir blickten weiterhin zu dem Reiher hoch, der aus Gründen, die für immer ins Ungewisse eingekerbt sind, über uns kreiste, genau über uns, ein Schuß krachte, natürlich nur ein Schuß, und der Reiher fiel wie ein Stein, und Bwana Speke jubelte laut, er schüttelte sein Gewehr wie eine Gurde und führte einen kleinen Tanz auf, so wie die Wazungu das Tanzen mißverstehen, und wie er jubelte: Ich habe unser Ziel erreicht, ich habe unser Ziel erreicht. Keiner von uns blickte dem Reiher nach, es hätte Unheil bedeutet. Wir starrten auf Bwana Speke und verstanden nicht, wieso er wie verwandelt war, wieso der zweite See besser war als der erste See und wieso ein Reiher sterben mußte, um die Freude von Bwana Speke zu teilen.