— Warte, warte, warte. Wir wissen zuwenig über die Zeit in Baroda. Du überspringst zuviel. Es wäre wichtig zu erfahren, wie dieser Lehrer, wie heißt er noch einmal … Upanitsche … wie er Burton Saheb unterrichtet hat.
— Was hat der Lehrer mit meiner Arbeit gemein? Wieso sollen wir uns damit aufhalten?
— Schließlich hast du ihn ausfindig gemacht, es ist nicht zuletzt dein Verdienst, wenn der Angrezi so erfolgreich gelernt hat.
— Der Lehrer, Upanitsche Saheb, wie ich schon gesagt habe, er war kein üblicher Munshi. Er hat behauptet, Burton Saheb könne nicht wie ein Gujarati sprechen lernen, wenn er nicht wie ein Gujarati esse. Und dann hat er ihm nahegelegt, er solle auf Fleisch verzichten, mehr Gemüse und Nüsse und Früchte essen, öfter kleine Portionen, und nicht diese schweren Mahlzeiten. Die Firengi bildeten sich ein, sagte er, sie hätten Mägen wie Elefanten. Burton Saheb nahm diese fremden Regeln an, er änderte sein Essen, er wies mich an, den Koch entsprechend zu unterweisen, und der Koch war gar nicht glücklich darüber, er war so stolz darauf, einige Gerichte der Firengi gelernt zu haben.
— Ich habe noch nie gehört, daß ein Angrezi so viel arbeitet. Früher hießen sie, ich weiß nicht, ob du dich daran erinnern kannst: jene, die nicht arbeiten müssen.
10.
EINER, DER WIE EIN FELSEN SITZT
Endlich ein Auftrag, der den Alltag aufbrach, den schon nach einer Woche starren Alltag. Er sollte einem Vertreter der Ostindischen Gesellschaft Begleitschutz bieten, ihn wohlbehalten nach Mhow bringen, wo der andere Teil seines Regimentes stationiert war. Der Auftrag war leicht zu erfüllen. Immerhin würde er die Stadt verlassen können, solange die kühlere Jahreszeit währte. Bevor sie aufbrachen, sprach der Mann ein Gebet, eines jener Gebete, die den Anschein erweckten, Gott habe eine persönliche Vormundschaft über diesen seinen Schutzbefohlenen übernommen. Er verlor kein Wort über seine Arbeit — vielleicht hatte er, als lizenzierter Händler, der Opium aus Malwa nach China verschiffte, den Gürtel seines Gewissens etwas lockern müssen. Sie nahmen den Weg nach Osten, in Richtung des Narmada-Flusses. Zu ihrer Linken trottete eine Ziegenherde. Sie erreichten Kelenpur, ein Dorf. Dann Jambuwa, ein Fluß ohne Wasser. Was hat es zu bedeuten, daß die Flüsse alle weiblich sind? Lauter Göttinnen, um genau zu sein. Burtons Versuch, eine Konversation in Gang zu bringen, wurde mit einem mißbilligenden Blick quittiert. Unweit des Wegrandes saßen einige Entwurzelte mit Frauen und Kindern, kochten an einem Lagerfeuer. Sie erreichten Dhaboi, ein altes Fort, dessen Baumeister in den Festungsmauern lebendig eingegraben wurde. Ein Grunzen war die einzige Reaktion auf diese Auskunft. Dieser Mann war ein Haus mit zugenagelten Fenstern und Türen. Burton gab die Suche nach einem geeigneten Thema auf. In der Ferne zeichnete sich die Vindhyachal-Kette ab. Sie überquerten die Narmada bei Garudeshwar. Heiliger als jeder andere Fluß, bemerkte Burton. Er war nicht gewillt, das Schweigen hinzunehmen. Wußten Sie eigentlich, die Befreiung von der Sünde dauert am Jamuna-Fluß sieben Tage, am Saraswati drei Tage und am Ganges einen Tag, aber schon der Anblick der Narmada reicht aus, um aus aller Schuld entlassen zu werden. Raffinierter Mythos, meinen Sie nicht auch? Dreckwasser, sagte der Opiumhändler. Mit reinigenden Eigenschaften, erwiderte Burton. Der Opiumhändler gab seinem Pferd die Sporen. Burton holte ihn bald ein. Ich fürchte, sagte er, Sie kennen den Weg nicht. Und mit unserem Führer werden Sie sich schwer verständigen können. Er spricht ein abgerissenes Hindustani und nur ein einziges Wort Englisch: shortcut. Unverschämtheit, murmelte der Opiumhändler. Ein faszinierendes Detail noch über die Ganga. Weil sie so viele Menschen reinwäscht, wird sie selber unrein. Einmal im Jahr nimmt sie die Form einer schwarzen Kuh an und wandert zur Narmada, um in ihr zu baden, nicht unweit von hier. Das Dorf heißt … Bewahren Sie Haltung, Mann. Der Opiumhändler erhob zum ersten Mal seine Stimme. Sie haben recht, ich verliere mich in Details. Viel wichtiger, wenn die Kuh aus dem Wasser steigt, ist sie weiß, ganz und gar weiß. Tüfteln Sie das mal aus. Worauf Burton sein Pferd nach vorne trieb.
Am nächsten Tag, nach dem Aufstieg in die Berge, erstreckten sich Mohnfelder zu beiden Seiten des Weges über mehrere Stunden leichten Trotts. Von dieser Hochebene aus verdarb die Ehrenwerte Gesellschaft das Reich der Mitte. Ein elegantes Austarieren des Außenhandelsdefizits, hatte ein Kommentator der Times im Vorjahr geschrieben, als die Kämpfe in China beigelegt wurden. Ein einziges Mal hatte der Opiumhändler das Wort an ihn gerichtet. Sie trabten auf einen Karren zu, als er fragte: Was da wohl drin ist? In einem Tonfall, als wüßte er mehr, viel mehr, als augenfällig war. Heu, schätze ich, antwortete Burton. Den Anschein hat’s, aber trügt der Anschein nicht? Der Opiumhändler verfügte eindeutig über Herrschaftswissen. Neulich wurde ein Kerl aufgegriffen, er hatte den ganzen Karren voller Konterbande, unter dem Heu. Konterbande, fragte Burton scheinheilig, was denn für Konterbande? Beste Qualität, ein kleines Vermögen, das wir da beschlagnahmt haben. Mehr hatte der Händler nicht zu sagen, bis zu dem vernuschelten Abschied in Mhow. Burton überreichte dem kommandierenden Major eine Botschaft von dem Brigadier in Baroda und täuschte einen leichten Schwächeanfall vor, um dem gemeinsamen Mittagessen zu entkommen, das zweifellos den restlichen Tag erdrücken würde. Statt dessen schlich er sich nach draußen, um das Städtchen zu erkunden.
Die Sonne hatte eine erbarmungslose Höhe erreicht. Einige Männer genossen den Schatten unter ihren Karren. Kühe mampften. Mehr geschah nicht in der Stunde des Zenits. Kommen Sie! Ein Junge hatte sich an seine Fersen geheftet. Kommen Sie mit! Sie müssen den Richter kennenlernen. Keiner darf diesen Ort verlassen, ohne Richter Ironside kennenzulernen. Am Ärmel wurde Burton durch die lehmigen Gassen gezogen. Der Junge, der neben ihm lief, zupfte immer wieder an seinem Ärmel und prahlte mit den Namen der hohen Herren, die er zum Richter geführt habe. Er zählte ihre Titel bereits zum dritten Mal auf, als sie das Gerichtsgebäude erreichten. Es war von einem Garten umgeben, mit dem sich die Gerechtigkeit vor dem Schmutz der Straße schützte. Der Tschoukidaar am Eingang riß sich am fleckigen Gurt, salutierte mit seiner Linken und gab nichts von sich, außer einem Rinnsal Spucke, das seinen Schnurrbart hinabkroch.
— Vielleicht ist der Herr Richter heute nicht im Dienst?
— Der Richter ist immer anwesend. Wo sollte der Richter sonst sein?
Sie folgten einem Kieselweg, einst elegant mit Sträuchern bepflanzt, die inzwischen jedoch völlig verwildert waren. Der Rasen vor dem Portikus war übersät mit niederkauernden Einheimischen. Zwischen den Säulen kratzten Schreiber geflüsterte Eingaben aufs Papier und stempelten sie mit prüfenden Blicken ab. Der Junge betrat das Gebäude selbstbewußt, ohne um Erlaubnis zu bitten; es war allerdings auch keiner zu sehen, den er hätte fragen können. Unbehelligt passierten sie einige streng dreinblickende Marmorschädel und gelangten in einen Saal, der Burton an eine Basilika erinnerte — die langgezogene Decke endete in einer gewaltigen Kuppel. Einige rotierende Propeller hingen an langen Stengeln herab. Und Vögel, die noch lauter flatterten als die Ventilatoren, unzählige grüne Vögel, die offensichtlich durch die Löcher in der Kuppel hereingeflogen waren. Mitten im Saal, umgeben von Aktenstapeln, Käfigen, Kerzenständern und einem übergroßen Tintenfaß, saß ein Mann mit Perücke, in Akten vertieft. Weitab von seinem Schreibtisch hockten Bittsteller auf ihren Fersen; zwischen ihnen und dem Richter — denn nur um diesen konnte es sich bei dem blassen, ziegenbärtigen Mann handeln — glänzte der Boden. Der Junge schien unsicher, zum ersten Mal. Burton beobachtete die Perücke des Richters, die oberhalb der Stirn von einem Luftzug gekräuselt wurde, über den Ohren hingegen wie ein nasser Lappen herabhing. Der Richter las weiterhin bedächtig. Er bewegte sich nicht; nicht einmal, als ein Kanarienvogel auf seiner rechten Schulter landete. Und auch die Bittsteller blieben reglos stumm, als würden sie diesem fremden Idol ihre Geduld darbieten. Ohne ein Räuspern oder eine Vorrede verkündete der Richter plötzlich sein Urteil. Danach blickte er weder auf, noch entließ er die Wartenden mit einem abschließenden Satz oder einer Geste. In dem aufgestauten Schweigen erhoben sie sich schwerfällig und zogen sich zurück.