— Jetzt!
— Richter-ji! Besuch. Ich bringe Ihnen Besuch, endlich wieder Besuch für Sie.
Während sich die beiden, auf eine einladende Handbewegung des Richters hin, seinem Schreibtisch näherten, wieselte ein kleiner Mann mit Eimer herein, wischte den Boden noch blanker, hielt aber inne, wo vorher die Einheimischen gehockt hatten. Als wäre dort eine unsichtbare Grenze gezogen worden.
— Sie besuchen uns umsonst. Ich fürchte, ich kann Ihnen heute nichts bieten. So unangemeldet. Ein höchst unglücklicher Umstand. Ich hätte durchaus etwas arrangieren können, aber so fällt Ihnen nur die unreine Frucht des Zufalls in den Schoß.
— Ich wußte nicht, was mich in Mhow erwartet. Immerhin haben wir auf dem Herweg die buddhistischen Höhlen besuchen können.
— Haben Sie den Eremiten getroffen?
— Heute war sein Schweigetag. Wir haben uns eine Weile beäugt.
— Meine Rede. Unglückselig. Höchst unglückselig. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen. Die oberste Maxime von Zivilisation, das habe ich hier begreifen müssen. Die Vögel scheißen auf meine Akten. Glauben Sie an einen Zweck dahinter? Es gelingt mir nicht, sie loszuwerden. Sie werden in diese Käfige gelockt und auf dem Basar verkauft; allerdings lassen sie sich inzwischen schwer absetzen. Übersättigung des Marktes, wissen Sie. Es gelangen zu viele Vögel durch die Löcher. Sie haben keine Ahnung, seit wann ich darauf warte, daß mir eine Renovierung genehmigt wird. Ein Wunder, daß es hier seit Jahren nicht mehr richtig geregnet hat. Gott steht auf der Seite der Gerechtigkeit.
— Justitia ist ihm seine liebste Tochter.
— Mein eigenes System habe ich entwickelt. Mich auf jene Bereiche konzentriert, die ich kontrollieren kann. Wollen Sie wissen, wie?
— Eigentlich wollte ich nur …
— Ich habe mich gefragt: Was stört uns am meisten? Der Schmutz? Ja. Die Aufdringlichkeit? Aber ja. Die Unpünktlichkeit? Und wie! Also habe ich mir vorgenommen, diese Geißeln auszumerzen. Ich habe eine Bannzone eingeführt, die keiner betreten darf. Sie müssen die Unhöflichkeit entschuldigen, aber Ausnahmen offenbaren Schwäche. Ich habe versucht, eine Uniform einzuführen. Das hat es noch nie gegeben, eine Uniform für die Ankläger, eine für die Beschuldigten, eine für die Zeugen. Aber das war zu ambitioniert. Ich habe lange nachgedacht. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, daß mich die Stimmen dieser Menschen in die Verzweiflung treiben. Dieses schrille Durcheinander, das so klingt, als würden die Wörter ausgewürfelt werden. In den Wahnsinn. Deswegen habe ich jegliches Gerede verboten.
— Die Schreiber vor der Tür …
— Jede Eingabe muß schriftlich erfolgen. Vor dem Gericht wird nicht geredet. Nur das Urteil spricht. Hier herrscht täglich Schweigen. Ich versuche diesen Menschen begreiflich zu machen, wie wichtig es ist, das Reden im Zaum zu halten.
— Eine alte …
— Aber das hat nicht ausgereicht! Es galt, die permanente Unzuverlässigkeit zu unterbinden. Was für eine kolossale Aufgabe. Wie viele sind daran schon gescheitert. Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe ein Zeitreglement eingeführt. Ich halte das für meine allergrößte Errungenschaft.
Mitten im Satz, als der Richter zur Betonung mit dem Kopf genickt hatte, war die Spitze seines Ziegenbartes in das Tintenfaß gerutscht.
— Unser Tag besteht aus halben Stunden. Jeder Angelegenheit widme ich dreiundzwanzig Minuten, so daß mir sieben Minuten Pause bleiben. Sie werden sehen, gleich werden die nächsten auftauchen. Pünktlich wie Big Ben! Wenn sie nämlich zu früh oder zu spät erscheinen, wird ihr Fall nicht behandelt. Kein Einspruch. Sie können sich am Ende der Schlange wieder einreihen!
Die Bartspitze lag noch immer im Tintenfaß. Langsam färbten sich die Haare von der unsichtbaren Spitze aufwärts. Locke um Locke wuchsen blaue Äderchen zum Kinn.
— Sie glauben vielleicht, diese Vögel schwirren durch meinen Verstand.
Er lachte. Seine Zähne waren blau überzogen, ebenso seine Zunge.
— Denken Sie, was Sie wollen, aber seien Sie versichert, ich werde meiner Aufgabe gerecht, besser als jedes andere gottverlassene Gericht in diesem gottverlassenen Land. Ich muß mich auf den nächsten Fall vorbereiten.
Er hob eine Akte von einem niedrigen Stapel neben seinem Sitz auf, führte sie zum Mund und blies etwas unsichtbaren Staub weg.
— Staub, der ist überall. Dagegen hilft Gelbwurz, täglich einzunehmen. Am Abend, mit etwas Honig vermengt, dann kann Ihnen der Staub nichts anhaben. Verweilen Sie, wenn Sie möchten, aber ich fürchte, dieser Fall wird sich als langweilig herausstellen. Durch und durch langweilig.
Der Richter vertiefte sich in das Studium der Akten, bevor Burton Abschied nehmen konnte. Der Junge zog an seinem Ärmel und führte ihn zum hinteren Ausgang am anderen Ende des Saals. Bevor sie den erreichten, drängte sich Burton eine Frage auf. Seine laute Stimme wurde zu einem Echo gebogen.
— Herr Richter. Was war dieses Gebäude früher?
Während seine Worte die Vögel unter der Kuppel verschreckten, fixierte ihn der Richter mit einem freudlosen Blick.
— Ein moslemisches Grabmal. Verschwinden Sie!
11.
NAUKARAM
II Aum Pashinaaya namaha I Sarvavighnopashantaye namaha I Aum Ganeshaya namaha II
— Gestern war kein ergiebiger Tag. Ich habe am Abend die Aufzeichnungen durchgesehen, es war kaum etwas Brauchbares darunter. Wir haben Geld verschwendet.
— Wir haben Geld verschwendet? Wie kann das sein? Ich habe etwas gezahlt, und Sie haben etwas erhalten.
— Wir müssen mehr über Baroda aufschreiben. Schließlich wirst du in Baroda eine neue Anstellung suchen. Sindh ist weit weg.
— Ich habe Ihnen schon alles erzählt über meine Zeit hier.
— Du hast Kundalini ausgelassen.
— Mit Absicht.
— Du legst eine unnötige Scham an den Tag, wirklich. Es weiß doch jeder in der Stadt, die Angrezi ohne Ehefrauen nehmen sich Konkubinen, jeder von ihnen hat eine Bubu. Du hast dem Firengi also eine Geliebte beschafft.
— Woher wissen Sie das?
— Selbst wo die Sonne nicht hingelangt, dort kommt der Dichter hin. Was also willst du mir verheimlichen?
— In meinem Fall war es anders.
— Gewiß. Deswegen möchte ich die Geschichte festhalten. Sie macht dich besonders. Sie zeichnet dich aus, dessen bin ich mir sicher, ohne sie näher zu kennen.
— Nein. Nicht unbedingt.
— Wie oft habe ich dir schon versichert: Was nicht für dich spricht, wird nicht aufgeschrieben.
— Besser ist es, wenn es nicht ausgesprochen wird.
— Du bist nicht nur ein Dickkopf …
— Ich muß nicht über alles reden.
— Du weißt deine Verbohrtheit auch noch zu rechtfertigen.