— Die Heuchelei gedeiht.
— Und sie geht noch besseren Zeiten entgegen.
— Ich sagte zu ihm: Du verstehst nicht. Es ist ein Zustand, der völlig aus der Welt geschafft werden muß. Es geht nicht nur um das Leid einiger Menschen, hier und heute. Es geht um das Leid der Hinterbliebenen und ihrer Nachfahren. Wenn der Schmerz und der Schrecken einmal in den Boden gesickert sind, wie sollen sie je wieder vertrieben werden, wer wird das Land reinigen? Wer wird es vor den Keimen der Gewalt bewahren, die in den Nachfahren aufgehen werden, in den Enkeln und in den Urenkeln, die eine andere Sonne sehen müssen als jene, die ihre Vorfahren gesehen haben.
— Und Bwana Burton, was sagte er?
— Du redest wirr, sagte er, der Mganga hat dir den Kopf verdreht! Es kann sein, vielleicht hat er mir den Kopf verdreht, antwortete ich, aber ich weiß, ich schaue nun in die richtige Richtung.
Er steht im Wasser, hüfttief, im trüben Wasser, und jedesmal, wenn er seinen Arm hineintaucht, berührt er etwas Glitschiges. Eigentlich ist es nicht unangenehm, eher unvertraut. Schlamm, wohin sie treten. Sie müssen — mit mulmigen Gefühlen — durch ein Dunkel waten, das ihre Beine schluckt. Er steht im Wasser und fragt sich, ob sie einen Fehler gemacht haben. Als sie an dem breiten, ruhig dahingleitenden Fluß standen und sich überlegten, wo sie ihn überqueren sollten. Vielleicht dort, wo das Wasser zwar tiefer war, sie aber den Fluß überblicken konnten. Bestimmt nicht hier, wo sie sich verlieren könnten, so dicht bewachsen ist dieses Binnendelta. Die Landschaft ist völlig unberührt. Als treibe der Fluß, dem sie folgen, in die Zeit vor der ersten Sünde, als kehrten sie zurück in die frühesten Anfänge der Welt, als die Pflanzen nach Belieben wucherten und Baumriesen über alles herrschten. Der Fluß, der Malagarasi heißt, so haben sie es verstanden, führt zum See.
Snay bin Amir hat ihnen einen Führer mitgegeben, einen jungen Mann, halb Araber, halb Nyamwezi, und es hatte am Anfang den Anschein, als führe der selbstbewußte Mann sie gut, bis sie herausfanden, daß er ihnen einen Umweg von mindestens drei Tagesmärschen aufgebürdet hat, damit er seine Frau besuchen konnte. Und dann wollte er sich nicht mehr von ihr trennen, so daß er ihnen seinen Neffen als Führer andiente, der sie ebenfalls voller Selbstvertrauen in die Irre leitete, dieses Mal allerdings ohne Absicht. Burton beschloß, den Nichtsnutz zurückzuschicken und einfach dem Fluß zu folgen, der zu jenem Zeitpunkt mehr Vertrauen erweckte: breit, von Palmen gesäumt, die im Wind knisterten, die Borassus, von Sklavenhändlern gepflanzt, so hat Snay bin Amir behauptet, hohe, fruchttragende Palmen mit gebündelten Wedeln über einem dünnen, schnurgeraden Stamm. Es war ein idyllisches Bild, belebt von unbekümmerten Vögeln, über und auf dem Wasser, auf Ästen und Zweigen. Der wunderbare Flug der Milane, die zirkelgenau durch die Luft kreisten; die geselligen Pelikane, wie zu einer Gartenparty versammelt, jeder Schnabel nach unten gesenkt und jeder Kopf nach links gedreht; die Eisvögel, die sich senkrecht ins Wasser stürzten und genauso senkrecht wieder hochschossen, im Schnabel ein Fisch; die Goliathreiher, die von den Felsgesteinen in der Flußmitte aus auf ihre Beute lauerten, regungslos.
Schreie von Stummelaffen. Nicht weit entfernt. Es klingt nicht freundlich. Speke schaut in die Höhe, als könnte das wenige durchsickernde Licht sein Leiden mildern. Er scheint sich ein Trachom eingefangen zu haben. Die Bindehaut ist entzündet, die Augenlider stark geschwollen, vor allem das linke. Er kann das Auge nicht richtig schließen. Seitdem er kaum noch etwas sehen kann, sucht er Burtons Nähe, akzeptiert wortlos seine Führung. Im Sumpf hat er einige Male nach ihm gefaßt, hat sich an einem ausgebeulten Ende seines Hemdes festgekrallt, ist ausgerutscht, als Burton ausrutschte, ist hingefallen, als dieser hinfiel. Vor einigen Tagen, als Burton sich über seinen schnöseligen Kompagnon geärgert hatte, wünschte er sich, Speke möge an dieser Wildnis zerbrechen, er möge seine Selbstkontrolle verlieren und mit ihr seine hochherrschaftliche Fasson, seine vornehmen Manieren. In dem Dorf, in dem der Führer bei seiner Frau zurückblieb, war ihnen ein alter Mann über den Weg gelaufen, der blind war, beide Augenlider nach innen gewachsen, die Hornhaut vernarbt, die Iris verloren in einem durchröteten Wattebausch. Burton hat in die verdorbenen Augen hineingestarrt, er konnte sich nicht von ihnen losreißen. Er hat sich geschämt, weil er gelegentlich des Sehens überdrüssig wurde, und er widerrief seine Vermaledeiung: Spekes Augen mögen gesunden.
Die Müdigkeit, die er spürt; wenn er sich für einen Augenblick entspannen würde, er würde auf der Stelle einschlafen. Er duckt sich unter einer Weide, er klettert über einen morschen Baum, der vor einiger Zeit eingesackt sein muß. Er blickt nach vorne. So groß ist dieser Fluß nicht. Dieses Binnendelta muß doch irgendwann enden. Keine fünf Meter entfernt, wie durch ein gewölbtes Fenster im dichten Bewuchs, springt ein gewaltiger, dunkler Pavian über den Wasserlauf, ohne einen Laut, wie verlangsamt aufgrund der Stille. Burton hält und bedeutet den anderen, sich nicht zu bewegen. Eine Pavianmutter folgt, an die sich ein Kleines krallt, einige andere Kleine, und dahinter ein Pavian nach dem anderen, eine vielzählige Schar, die, ohne das leiseste Knacken zu verursachen, ohne sich umzublicken, so als existierten die Menschen in ihrer Nähe nicht, durch die umrankte Öffnung huscht, in großer Eile. Burton ist in Bann geschlagen von diesem Interludium, eine reine Bewegung, vielleicht ein Zeichen, gewiß ein Zeichen. Den Affen folgen. Sie sollten den Affen folgen. Er gibt die Order aus. Keine halbe Stunde später stehen sie an einer Böschung, unter ihnen ein breiter, ruhig dahingleitender Fluß.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Die lange Rast in Kazeh, meine Freunde, sie hatte den Wazungu Linderung verschafft, sie hatte ihnen neue Kraft gegeben, aber sie hatte sie nicht wirklich geheilt. Sie gewannen genug Kraft, um die Reise zu überstehen, doch sie reichte nicht aus, um gesund zu werden. Im Sumpf kehrte das Fieber zurück, und Bwana Burton, er wurde von den Fängen dieses Fiebers so übel zugerichtet, er schwankte zwischen Schweißausbrüchen und Schüttelfrost, er übergab sich, immer wieder, und gelegentlich fiel er in einen Wahn, in dem ihm die Dschinns mehr bösen Sinn einflüsterten als einem Säufer im Rausch, er konnte seine Beine, seine von Geschwüren befallenen Beine, nicht mehr fühlen, er war gelähmt. Ich habe keine Muskeln mehr, sagte er leise, fast ohne seine Lippen zu bewegen, seine von Pusteln übersäten Lippen. Seine Augen waren blutunterlaufen, als sei die Abendsonne zerschlagen worden wie ein Ei, sie brannten, und er klagte und klagte, er halte den schrillen Ton in seinen Ohren nicht aus, der sich dem Heilmittel der Wazungu verdankte, ein Heilmittel namens Chinin, das ihn quälte, aber ohne dieses Chinin, sagte er, wäre er schon längst tot. Er war voller Schmerz, und doch hat ihm nichts so weh getan wie seine Schwäche, seine Abhängigkeit. Ihr hättet den Widerwillen auf seinem Gesicht sehen sollen, als er getragen werden mußte von acht der stärksten Träger, weil er sich nicht auf dem Esel festhalten konnte. Und Bwana Speke, er konnte fast nichts sehen, er versuchte dieses Leiden zu verbergen, aber wie hätte er uns täuschen sollen, wenn er auf nichts mehr schoß, sein Gewehr nicht einmal auspackte. In der Früh, da brauchte er mich, wenn seine Augen klebrig verquollen waren, als seien sie mit Harz eingeschmiert, ich mußte sie mit Wasser ausspülen, ich mußte ihm seine Stiefel anziehen, und er war gereizt dabei, er war unwirsch. Die beiden Wazungu, sie waren uns ausgeliefert in diesen Tagen, und nicht nur einmal dachte ich, was für ein Glück sie hatten, in unsere Hände geraten zu sein.
— Baba Sidi, verzeih mir, es wird spät, und ich habe meinen Enkeln versprochen, ihnen heute abend eine Geschichte zu erzählen, vielleicht werde ich eine deiner Geschichten erzählen, ich muß gleich weg, aber ich möchte euch nicht verlassen, ohne gehört zu haben, es ist mir eine so schöne Erinnerung, wie du den See erreichst …