Der Terrorist reagierte so schnell, wie Kenneally erwartet hatte: Er warf sich blitzschnell zur Seite und landete mit einer eleganten Rolle im Schnee; gleichzeitig versuchte er seine eigene Waffe in Anschlag zu bringen, um zurückzuschießen. Normalerweise hätte Salid es nicht einmal beachtet. Nach einer solchen Aktion und aus Salids Position heraus einen Mann in einem fliegenden Hubschrauber zu treffen war praktisch unmöglich. Aber er hatte in den letzten Stunden eine Menge Dinge erlebt, die eigentlich unmöglich waren, und Smith' Stimme – Der Mann, der dich richten wird. Der Mann, der dich richten wird. Der Mann, der … – schien mittlerweile ununterbrochen in seinem Kopf zu widerhallen, so daß er erschrocken zurückprallte und eine Sekunde lang so intensiv auf den Schmerz des Treffers wartete, daß er ihn tatsächlich schon fühlte.
Nichts geschah. Der Helikopter stieß weiter auf die drei einsamen Gestalten im Wald herab. Salid lag auf dem Bauch im Schnee und zielte nicht einmal auf ihn, sondern schien irgendwelche Schwierigkeiten mit seiner Waffe zu haben, und die beiden anderen standen einfach da und starrten dem herannahendenTodesboten entgegen, ohne sich zu rühren.
Kenneally fluchte lautlos in sich hinein. Er schätzte, daß ihm noch zwei, allerhöchstens drei Sekunden blieben, bis sie über die Männer hinweg waren und der Pilot eine Schleife fliegen mußte, um zu einem neuen Angriff anzusetzen; eine Aktion, die sicher ebenfalls nur Sekunden in Anspruch nahm, Salid aber dann garantiert Zeit und Gelegenheit zu einem sicheren Schuß gab. Salid würde er nicht mehr erwischen. Dazu waren sie bereits zu nahe. Er zielte auf eine der beiden anderen Gestalten und zog den Abzug durch.
Einen Sekundenbruchteil, bevor die Waffe die zweite Salve ausspie, setzte der Motor des Helikopters aus. Die Maschine bockte, wie ein Wagen, dessen Fahrer von der Kupplung abgerutscht war, und die Schüsse verfehlten ihr Ziel undzerfetzten nur einige Äste, meterweit hinter dem Mann am Waldrand. Kenneally nahm den Finger vom Abzug.
Irgend etwas schien nun wirklich mit der Zeit geschehen zu sein. Der Helikopter schoß, wie ein geworfener Stein von seinem eigenen Schwung noch ein Stück weitergetragen, über Salid und die beiden anderen hinweg, aber er stürzte nicht. Kenneally blieb Zeit genug, das Gewehr sinken zu lassen und sich zu Adrianus herumzudrehen, und als die Maschine endlich ihren Schwung aufgebraucht hatte und ihr Tonnengewicht wieder den normalen Gesetzen der Physik zu gehorchen begann, sah er sogar noch, wie Adrianus die Augen schloß und sich bekreuzigte. Die Zeit, die Hände zum Gebet zu falten, blieb ihm nicht.
Kenneally spürte nicht einmal mehr, was sein Bewußtsein auslöschte: der eigentliche Aufprall oder die Druckwelle der Explosion, die die Maschine einen Sekundenbruchteil später in einen lodernden Feuerball verwandelte.
Jemand ohrfeigte ihn; eine ebenso alte wie hirnrissige Methode, einen Bewußtlosen aufzuwecken, die hier und jetzt allerdings ihren Dienst tat. Brenner öffnete stöhnend die Augen und bewegte den Kopf hin und her, aber Salids Hand klatschte noch zweimal auf seine Wange; nicht so fest, daß es wirklich weh getan hätte, aber doch hartnäckig genug, um ihn daran zu hindern, wieder in die verlockende Umarmung der Ohnmacht zurückzugleiten.
Er erinnerte sich mit vollkommener Klarheit an das, was geschehen war, von dem ersten Entsetzen über die Anwesenheit des Hubschraubers, dem Aufpeitschen des Schnees vor seinen Füßen und dem Geräusch der Schüsse, das sie erst einen Sekundenbruchteil später erreichte. Doch es war eine seltsame losgelöste Erinnerung, wie aus der Sicht eines fernen Beobachters. Vielleicht war das, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, einfach zuviel gewesen; vielleicht war er schließlich an einem Punkt angelangt, wo er nicht mehr handeln konnte. Er hatte nicht einmal gezuckt, als er sah, wie der Mann in der Seitentür des Helikopters direkt auf ihn anlegte, und er wußte, der nächste Schuß würde ihn treffen, konnte ihn gar nicht verfehlen. Dann hatte der Motor des Helikopters ausgesetzt …
Der Donner der Explosion, die ihn zu Boden geschleudert hatte, rollte noch immer als gebrochenes Echo über den Himmel, und Brenner spürte, wie ihm der Schnee eisig in den Kragen und die Jackenärmel rutschte und dort sofort zu schmelzen begann.
Brenner blinzelte, hob mühsam die rechte Hand, um die Schläge abzuwehren, und stellte zu seiner Überraschung fest, daß es nicht Salid war, der ihn schlug, wie er ganz instinktiv angenommen hatte. Das Gesicht, das sich über ihn beugte, gehörte Johannes. Er war sehr blaß und zitterte am ganzen Leib, aber seine Augen waren wieder klar.
»Alles okay?« fragte er.
Brenner hütete sich, zu nicken. Ihm war übel, und er war ziemlich sicher, daß das quälende Hämmern hinter seinen Schläfen zu einem entsetzlichen Schmerz explodieren würde, wenn er den Fehler beging, sich zu heftig zu bewegen, aber er signalisierte seine Zustimmung mit einem Senken und Heben der Lider. Johannes richtete sich erleichtert auf.
Er konnte nicht sehr lange bewußtlos gewesen sein; vielleicht nicht einmal eine Sekunde. Außerdem hatte sich auch Salid gerade erst aufgerichtet und kam humpelnd heran. Brenner war ziemlich sicher, daß ihn die Schüsse nicht getroffen hatten. Vielleicht hatte er sich weh getan, als er zu Boden gegangen war.
»Ist einer von euch verletzt?« fragte er.
»Nein«, antwortete Brenner mit zusammengebissenenZähnen. Äußerst behutsam hob er den Kopf, wartete auf die Schmerzexplosion zwischen seinen Schläfen und atmete erleichtert auf, als sie nicht kam. Der Schmerz ebbte im Gegenteil immer weiter ab und sank auf das Niveau eines zwar spürbaren, aber erträglichen Drucks. Durch diesen ersten Erfolg mutiger geworden, stemmte er sich in eine halb sitzende Position hoch und griff schließlich sogar nach Johannes' Hand, um sich ganz aufhelfen zu lassen.
Salid beobachtete ihr Tun mit sichtbarer Überraschung, aber er sagte nichts dazu, sondern maß Johannes nur mit einem prüfenden Blick, ehe er sich mit einer ruckhaften Bewegung herumdrehte und auf die Klostermauern wies.
»Gehen wir. «
Kein Wort über das, was geschehen war. Kein Blick auf den zerstörten Hubschrauber, der zwanzig Meter hinter ihnen in einer Rauch– und Flammensäule hinter den Büschen flackerte. Was geschehen war, war geschehen, und es war gleich, wie und weshalb. Offenbar hatte sich Salid endgültig in die Rolle eingefunden, die andere, stärkere Mächte ihm und den beiden anderen in diesem Geschehen zugedacht hatten. Oder er hatte einfach Angst davor, zu viele Antworten zu erhalten.
»Schaffen Sie's?« Obwohl es Johannes gewesen war, der ihm auf die Füße half, wandte sich Brenner mit einem fragenden Blick und einer entsprechenden Geste an den jungen Geistlichen. Johannes zitterte noch immer am ganzen Leib, was vielleicht einfach an der Kälte lag, die trotz des Gluthauches, den das brennende Hubschrauberwrack ausstrahlte, immer grausamer zu werden schien. Aber da war noch ein anderes, düstereres Feuer, das tief in Johannes' Augen loderte und das Brenner mehr denn je erschreckte. Sein Geist war aus der Verbannung seiner ganz privaten Hölle zurückgekehrt, aber er hatte etwas mitgebracht. Brenner wollte nicht wissen, was es war.
Sie näherten sich dem Kloster. Der Weg war weiter, als Brenner geglaubt hatte, denn die Nacht und das unwirkliche Licht verzerrten die Dimensionen, und dazu kam, daß sie mittlerweile alle am Ende ihrer Kräfte angelangt waren, so daß sie gute zehn Minuten brauchten, um den gemauertenTorbogen zu erreichen. Brenner war so erschöpft, daß er sich gegen die Wand sinken ließ und die Augen schloß, um Kraft zu sammeln.