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Brenner betrat den angrenzenden Raum. Diesmal war er vorsichtig und stieß sich nicht, aber er verschwendete auch keinen Blick auf seine Umgebung. Sein Herz hämmerte. Obwohl sich die Kälte so tief in seinen Körper gegraben hatte, daß er noch immer am ganzen Leib zitterte, waren seine Hände schweißnaß. ER war da. Ganz dicht. Brenner spürte seine Nähe, noch bevor er sich aufr ichtete und zu der Gestalt herumdrehte, die am anderen Ende des Raumes stand und ihn ansah. Brenner spürte seinen Blick, wie etwas Unsichtbares, Weißglühendes, das seine Haut berührte und ihn verbrennen mußte wie das Feuer eine Motte, die dem Licht zu nahe gekommen war. Brenner richtete sich auf, schloß die Augen und raffte noch einmal all seinen Mut zusammen. Dann drehte er sich um.

Sie alle hatten sich getäuscht. Salid. Johannes. Der verbrannte Mann. Er selbst.

Es war nicht der Widersacher, den sie alle gefürchtet hatten. Statt des Alten Feindes, statt einer Gestalt mit Teufelsschweif, mit Pferdefuß und Hörnern und flammendem Atem stand er einem schlanken jungen Mann gegenüber. Er war etwas größer als Brenner selbst und bekleidet mit einem einfachen, knöchellangen Gewand, das irgendwann vor zweitausend Jahren aus der Mode gekommen sein mußte, und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold. Die Male an seinen Händen und Füßen waren kleiner, als er erwartet hatte; keine klaffenden Wunden, sondern dünne, rote Linien, wie vor langer Zeit verheilte Narben.

Was Brenner am meisten überraschte, war seine Jugend. Er sah keinenTag älter aus als dreißig, und daran änderten weder der weiße Bart irgend etwas noch das schulterlange, schneeweiße Haar, gebleicht in den langen Jahren der Gefangenschaft. Sein Gesicht war immer noch das eines Dreißigjährigen – eines sehr jung gebliebenen Dreißigjährigen , der nur versuchte, älter auszusehen. Das einzige, was diesen Eindruck Lügen strafte, waren die Augen. Sie waren nicht jung, aber sie waren auch nicht alt. Sie waren zeitlos. Es waren die Augen eines Wesens, für das eine Million Jahre wie ein Tag war und eine Sekunde wie eine Ewigkeit und das … größer war als ein Mensch. Was immer dieses Wesen war, das da in der Gestalt eines jungen Mannes mit Narben an Händen und Füßen und einer Reihe winziger roter Wunden an der Stirn vor ihm stand, es war gewaltig. Vielleicht nicht einmal wirklich besser als sie, aber auf jeden Fall gewaltiger. Sein Zorn, wie seine Gnade, mußte unermeßlich sein.

Die Gestalt im weißen Kleid hob die Hand und deutete auf Brenner.

Und im gleichen Moment wußte er.

»Das habe ich nie getan. Ich kam als Freund zu euch. Nicht als Richtet.«

»Du lügst«, behauptete Judas. »Du wurdest geschickt, um über uns zu urteilen. Aber das lasse ich nicht zu. Ich habe dich durchschaut. Du kannst alle anderen täuschen, aber nicht mich. Ich weiß, warum du wirklich hier bist. Ich weiß, was du bist. «

» Und deshalb willst du mich töten«, sagte er.

Judas zog die Hand wieder unter dem Gewand hervor. Sie war leer. Ach wollte, ich könnte es«, flüsterte er. »Bei Gott, ich wollte, ich hätte die Kraft dazu. Aber ich kann es nicht. «

Hinter ihm bewegte sich etwas. Ein Schatten näherte sich, dann ein zweiter, dritter … Keiner der anderen Männer trug eine Fackel, so daß die meisten bloße Umrisse in der Dunkelheit blieben, aber er kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, wer sie waren. Er versuchte sich aufzurichten, aber die Stricke, mit denen er gebunden war, hinderten ihn daran. Alles, was er tun konnte, war den Kopf zu drehen und die beiden Gestalten anzublicken, die unmittelbar hinter Judas aufgetaucht waren.

»Ihr also auch?« murmelte er. »Selbst du, Simon? Johannes? Ihr alle? Haßt ihr mich auch?«

»Niemand tut das, Herr. « Der Fischer kam näher, bis sein Gesicht fast in den Bereich der lodernden Flammen geriet, die Judas' Fackel versprühte. Er schien die Hitze nicht einmal zu spüren. »Wir alle lieben dich, Herr. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Selbst er. « Er legte Judas die Hand auf die Schulter und lächelte. Judas wich einen Schritt zur Seite, so daß Simons Hand von seiner Schulter glitt.

»Zürne ihm nicht. Er ist verwirrt, und er sucht einen Schuldigen, für das, was er selbst getan hat. Er würde dir nie etwas zuleide tun. Keiner von uns würde das. Wir alle gäben freudig unser Leben, um das deine zu beschützen. «

»Dann laßt mich frei«, verlangte er.

Simon senkte den Blick. Tränen liefen über sein Gesicht. Aber seine Stimme war fest, als er weitersprach. »Das … können wir nicht, Herr. Sie würden dich töten, wüßten sie, daß du noch am Leben bist. «

»Niemand kann mich töten«, antwortete er. »Nur der, der mich geschickt hat. Glaubt ihr wirklich, ihr könntet euch SEINEM Willen widersetzen? «

Simon, den er den Fels genannt hatte, sagte nichts dazu, aber die Antwort war deutlich auf seinem Gesicht zu lesen. Er glaubte es nicht. Er wußte, daß sie es nicht konnten. Und trotzdem würden sie es versuchen.

»Warum? « fragte er. »Habt ihr denn nichts von dem verstanden-, was ich euch gelehrt habe? War denn alles falsch? «

»Nein!« Simon schrie fast. Sein Gesicht war ein einziger Ausdruck entsetzlicher Pein. »Es war richtig, Herr. Es war zu richtig. Nicht du bist es, der etwas falsch gemacht hat. Wir sind es, Herr. Nur wir. Judas hat recht. Wir sind schwach. Wir sind voller Mängel und Fehler, und wir verfallen nur zu leicht der Verlockung des Bösen. Du verlangst zu viel von uns, Herr. Unsere Welt ist noch nicht reif für deine Art der Gerechtigkeit. «

»Es ist nicht meine Gerechtigkeit«, erinnerte er. »Auch ich bin nur ein Werkzeug. «

»Aber wir sind noch nicht bereit«, erwiderte Simon. »Sie haben versucht, dich zu töten, weil sie dich fürchten. Weil sie spüren, daß du ihnen den Untergang bringst. Die Welt ist noch nicht reif für deine Lehre. Wir müssen sie vor dir beschützen. Und dich vor ihr. «

»Was also habt ihr beschlossen? « fragte er.

Simon zögerte lange mit der Antwort. Er hatte nicht die Kraft, ihm in die Augen zu blicken, als er es schließlich tat, und mit Ausnahme Judas Ischariots kam auch keiner der anderen näher, sondern sie blieben Schatten jenseits des unsicheren Lichtkreises, den seine Fackel schuf.

»Sie halten dich für tot, und wir wollen, daß es so bleibt«, sagte Simon. »Du wirst diesen Ort nicht mehr verlassen. Diesen oder einen anderen, sichereren, den es zu finden gilt. «

»Ein Gefängnis, meinst du.«

»Ich wollte, du würdest es nicht so nennen«, flüsterte Simon. »Aber vielleicht hast du recht. Ja, du hast recht. Es ist ein Gefängnis. Wir müssen es tun, versteh doch! Wir können uns deinem Gericht nicht stellen! Noch nicht! Wir sind noch nicht bereit! Wir … wir sind nur Kinder, die Zeit brauchen, zu lernen! Ich flehe dich an, Herr, gib uns diese Zeit! Unser Volk ist vielleicht nicht vollkommen, aber … aber es hat eine Gnadenfrist verdient. «

Und es hatte diese Frist bekommen. Er war diese Gnade gewesen; längst nicht die erste, aber vielleicht die letzte, die man den Bewohnern dieser Welt eingeräumt hatte.

Simon glaubte ihn vielleicht zu kennen, und auf seine Weise hatte er sicher recht damit; trotzdem wäre er sehr erstaunt gewesen, hätte er gewußt, wie gewaltig die Langmut dessen gewesen war, der ihn hierhergeschickt hatte.

Er sprach nichts von alledem aus, aber er wußte, daß Simon die Wahrheit in seinem Blick las. Simon war auf seine Weise etwas sehr Besonderes, auch wenn er es selbst nicht einmal ahnte: Es war ihm niemals gelungen, irgend etwas vor ihm zu verheimlichen.