Sehr behutsam schwang Astrid zuerst das eine, dann das andere Bein über den Zaun. Sie berührte dabei mehrmals den Alarmdraht; falls man sie auf dem Videomonitor nicht gesehen hatte, würde spätestens jetzt irgendwo eine Lampe aufleuchten. Gut so, dachte Brenner. Das letzte, was er wollte war, wirklich für einen Einbrecher gehalten zu werden.
Astrid hatte den Zaun überstiegen und versuchte auf der anderen Seite herunterzuklettern, wozu sie sich mit beiden Händen an den rostigen Stäben festhielt. Aber sie hatte wohl ihre Verletzung vergessen, denn sie verlor plötzlich den Halt, fuchtelte eine halbe Sekunde lang wild mit dem Arm in der Luft herum und verlor dann vollends die Balance. Mit einem kleinen Schrei kippte sie nach hinten. Brenner versuchte sie zu halten, aber er hatte wohl vergessen, daß er nicht auf ebener Erde stand, und eine Sekunde später landeten sie beide aneinandergeklammert am Boden.
Der Sturz war nicht sehr tief, und sie fielen in schon halb aufgetauten Morast, der ihrem Aufprall den größten Teil der Wucht nahm. Trotzdem war der Sturz hart genug, daß Brenner eine Sekunde lang benommen liegenblieb, zumal Astrid auf ihn gefallen war, und ihr Körpergewicht – zwar keine fünfzig Kilo, aber das aus zwei Metern Höhe – ihm die Luft aus den Lungen getrieben hatte. Er fühlte sich benommen. Nein, sie hätten wirklich nicht über diesen Zaun steigen sollen.
Sie waren sich so nahe wie niemals zuvor; zwar nur für eine Sekunde und alles andere als freiwillig, aber Astrids Fluchtdistanz war eindeutig unterschritten – Brenner sah Panik in ihrem Blick aufflammen, und sie sprang so rasch in die Höhe, daß sie sofort wieder ausglitt und neben ihm in den Schlamm stürzte. Sie fiel diesmal unglücklicher – auf dem weichen Boden verletzte sie sich zwar nicht, aber als sie ihren Sturz abzufangen versuchte, landete sie zielsicher in einer Pfütze. Als sie sich wieder aufrichtete, waren ihr Gesicht und ihr Haar voller Schlamm.
»Hast du dir weh getan?« fragte Brenner. Beinahe hoffte er es. Natürlich nichts Schlimmes: eine Zerrung, ein verstauchter kleiner Finger oder ein hübscher blauer Fleck am Hintern; sie hatte ihn mittlerweile weit genug gereizt, daß er sich durchaus ein wenig Schadenfreude gönnte.
Astrid schüttelte zornig den Kopf, als er sich auf das rechte Knie hochstemmte und die Hand nach ihr ausstreckte, so daß er die Bewegung nicht weiterführte, sondern statt dessen vollends aufstand. Zumindest er hatte sich verletzt – sein linkes Handgelenk tat erbärmlich weh. Mit zusammengebissenenZähnen schob er den Ärmel von Astrids Strickpullover hoch
und be trachtete seine Hand. Zu sehen war nichts, aber das Pochen wurde immer schlimmer, obwohl er die Hand bewegen konnte. Wahrscheinlich verstaucht, dachte er. Man sagte, daß so etwas mehr schmerzen sollte als ein glatter Bruch, und das schien zu stimmen.
Er spürte Astrids Blick auf sich ruhen, schüttelte den Ärmel mit einer ärgerlichen Bewegung wieder herunter und drehte sich zu der Videokamera um. Irrte er sich, oder hatte sie sich tatsächlich bewegt?
Vorsichtshalber hob er beide Arme über den Kopf, winkte übertrieben heftig und oft und deutete dann mit noch übertriebenerer Gestik zuerst auf sich und Astrid, dann auf den Zaun und schließlich in die Richtung, in der er das dazugehörige Gebäude vermutete.
»Was wird denn das, wenn es fertig ist?« erkundigte sich Astrid.
»Ich will nur sichergehen, daß uns niemand für Einbrecher hält und die Hunde auf uns hetzt oder gleich mit einem Gewehr kommt«, antwortete Brenner.
»Einbrecher?« Astrid lachte, nahm die Brille ab und versuchte die Gläser mit einem Zipfel ihres Pullovers notdürftig sauberzuwischen. »Wenn uns tatsächlich irgend jemand beobachtet hat, hat er sich wahrscheinlich halb tot gelacht«, sagte sie. »Sie werden uns fragen, ob wir mit der Nummer noch frei sind.«
Brenner lachte nicht, sondern begann mit übertrieben hektischen Bewegungen, sich den Schmutz aus den Kleidern zu klopfen – wenigstens versuchte er es. Irgendwie brachte Astrid das Kunststück fertig, ihm das Gefühl zu geben, daß er die alleinige Schuld an ihrem Mißgeschick trug; außerdem haßte er nichts so sehr wie das Gefühl, sich zum Narren zu machen, und genau das tat er praktisch ununterbrochen, seit sich ihre Wege gekreuzt hatten. Brenner verfluchte zum hundertsten Male an diesem Morgen seine eigene Faulheit, sämtliche weibliche Wesen auf diesem Planeten und vor allem die Kreditkartengesellschaft, auf deren leere Versprechungen er hereingefallen war.
Nachdem es ihm mit erheblicher Mühe gelungen war, aus den Matschklumpen an seiner Hose und dem geliehenen Pullover die gleiche Anzahl schmieriger, feucht glänzender Flecke zu machen, wandte er sich um, ging die wenigen Schritte zum Tor zurück, wobei er es sorgsam vermied, in ihre Richtung zu sehen, und marschierte schweigend los, als er hörte, daß sie aufstand und ihm folgte.
Der Weg setzte sich auf dieser Seite fort, aber er befand sich in wesentlich besserem Zustand. Hinter der nächsten Biegung, die nur ein knappes Dutzend Schritte entfernt war, löste plötzlich eine geteerte Fahrspur die ausgewaschene Rinne ab. Das Unterholz rechts und links der Straße war sorgsam zurückgeschnitten, und hier und da entdeckte er Stellen, an denen der Straßenbelag offenbar erst vor kurzem erneuert worden war. Beginnender Verfolgungswahn oder nicht Brenner hatte immer mehr das Gefühl, daß sie nicht hier sein sollten. Der erbärmliche Zustand der Straße auf der anderen Seite des Zaunes war kein Zufall. Wer immer hier wohnte, legte großen Wert darauf, nicht entdeckt zu werden.
»Was kann das hier sein?« fragte Astrid nach einer Weile. Sie hatte zu ihm aufgeschlossen. »Ein Schloß oder ein Kloster oder was?«
»Keine Ahnung«, antwortete Brenner kurz angebunden. »Wir werden es bald wissen. Hoffentlich.«
Wieder verfielen sie für hundert oder auch zweihundert Schritte in brütendes Schweigen, dann sagte Astrid: »Das mit uns läuft irgendwie nicht richtig, wie?«
Überrascht blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. »Was läuft nicht richtig?« fragte er betont. Er gab ihr gar keine Gelegenheit, zu antworten, sondern fuhr in hörbar schärferem Ton fort: »Ich wüßte nicht, was zwischen uns laufen sollte, Kindchen. Wir sind in einer ziemlich miesen Situation, aber mit ein bißchen Glück ist in ein paar Minuten alles vorbei, und dann werden sich unsere Wege trennen und hoffentlich nie wieder kreuzen.«
Astrid wirkte völlig verstört. Sein Angriff kam so überraschend und – wie er sich widerwillig eingestand – grundlos, daß sie ihn gar nicht begriff. »Aber – «
»Und nur damit das klar ist«, fuhr er im gleichen Ton fort. »Niemand hat dich gezwungen, bei diesem Sauwetter per Anhalter zu fahren, und niemand hat dich gezwungen, in meinen Wagen zu steigen. Komm also bitte nicht auf die Idee, irgendwelches dummes Zeug rumzuerzählen, okay?«
Astrids Augen waren plötzlich so hart wie das Eis, das aufden Ästen glitzerte. »Du überschätzt dich, Alter«, sagte sie. »Für einen Moment habe ich gedacht, du wärst in Ordnung, aber du bist auch nicht anders als all die anderen Arschlöcher. Ich werde bestimmt nicht – «
Das Brummen eines näherkommenden Motors unterbrach sie. Brenner und sie drehten sich im gleichen Moment herum und erkannten die leuchtenden Kreise eines Scheinwerferpaares, das sich ihnen rasch näherte. Also hatte doch jemand an dem zu der Videokamera gehörigen Monitor gesessen und sie beobachtet.
Brenner trat mit einer raschen Bewegung an den Straßenrand und sah dem näherkommenden Scheinwerferpaar entgegen. Hinter den Lichtern erschien ein massiger Umriß, der zu den kantigen Linien eines betagten Geländewagens wurde, welcher rasch auf sie zuhielt und schließlich kaum einen Meter vor Astrid zum Stehen kam. Die Seitenscheibe wurde heruntergekurbelt, und ein bärtiges, vom Pelzfutter einer hochgeschlagenen Kapuze eingerahmtes Gesicht lugte zu ihnen heraus. Bart und Futter hatten fast dieselbe Farbe, so daß es schwer war, zu sagen, wo das eine aufhörte und das andere begann. Die Augen, die zu diesem Gesicht gehörten, blickten nicht besonders freundlich.