»Hast du 'ne Zigarette?« fragte Astrid.
Brenner schob den Pullover in die Höhe und wühlte in den Taschen der Anzugjacke, die er darunter trug. Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, wie albern es aussehen mußte. Er streifte ihn über den Kopf und warf ihn achtlos zu Boden, ehe er die Zigarettenpackung hervorkramte, die er an der letzten Raststätte gekauft hatte. Er bediente sich selbst, hielt sie erst dann Astrid hin und wartete, daß sie ihr Feuerzeug aufschnappen ließ.
Astrids Hände zitterten so heftig, daß es ihm nicht gelang, die Camel in Brand zu setzen. Ganz automatisch griff er zu und hielt ihre Finger fest. Erst als der bittere Rauch seine Lungen füllte, begriff er, daß er etwas Unerhörtes tat, wofür sie ihm vor einer Stunde vermutlich noch die Augen ausgekratzt hätte. Aber er widerstand dem Impuls, die Hand erschrocken zurückzuziehen. Das hätte den Moment erst vollends peinlich gemacht. Statt dessen hielt er ihre Finger sogar etwas länger fest, als nötig gewesen wäre. Sie waren so kalt, daß er gar nicht das Gefühl hatte, etwas Lebendes zu berühren. Schließlich zog Astrid ihre Hand zurück und steckte das Feuerzeug ein.
»Danke«, sagte sie. Sie stieß eine Rauchwolke aus, die ihr Gesicht verbarg wie ein eisgrauer Schleier. »Sieht so aus, als hätten wir es hinter uns, wie?«
»Das Schlimmste, ja«, bestätigte Brenner. »Falls sie nicht gleich mit Ketten und Totenkopf-Masken kommen und uns in die Folterkammer schleppen.«
Der Scherz trug keinen zweiten Lacher, das spürte er selbst. Astrid verzog nur flüchtig die Lippen und beschränkte sich ansonsten darauf, einen vorwurfsvollen Blick auf den Pullover zu werfen, den er fallengelassen hatte. Brenner hob ihn auf und drapierte ihn, so gut es ging, über eine Stuhllehne. Nicht, daß es etwas änderte – er sah noch immer aus wie ein Putzlappen, der seit Ewigkeiten nicht mehr gewaschen worden war. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er auch ungefähr so roch.
»Hör mal«, begann Brenner verlegen. »Was ich vorhin gesagt habe, daß du keine Geschichten rumerzählen sollst und so – «
»Geschenkt«, unterbrach ihn Astrid. »Es tut dir leid und so weiter, ich weiß. Vergiß es.«
Aber das tat er nicht. Ganz im Gegenteil – es ärgerte ihn schon wieder, daß sie ihm nicht einmal eine Chance gab, sich zu entschuldigen, und es sogar fertiggebracht hatte, seine Worte gegen ihn zu wenden.
»Was ist eigentlich los mit dir?« fragte er. Erstaunlicherweise konterte sie nicht mit einer patzigen Antwort, sondern sah ihn nur ein paar Sekunden lang aus ihren großen Augen an, ehe sie eine Bewegung machte, die ein Achselzucken sein mochte. »Was soll los sein?«
»Das weißt du ganz genau«, antwortete Brenner, nun schon etwas schärfer. »Ich weiß selbst nicht genau, warum ich den Blödsinn vorhin gesagt habe. Wir waren wohl beide ein bißchen von der Rolle, nehme ich an. Aber du warst schon vorher so. Glaubst du vielleicht, daß das irgend etwas bringt?« Er machte eine abwehrende Handbewegung, als sie ihn unterbrechen wollte. »Ich denke, daß du vermutlich einen Grund hast. Vielleicht hat man dir ziemlich übel mitgespielt. Ich will gar nicht wissen, was los war. Es geht mich nichts an. Aber weißt du, es wird nicht besser, wenn du jetzt für den Rest deines Lebens wie eine bissige Hündin herumläufst und nach jeder Hand schnappst, die dich vielleicht nur streicheln will. Die Welt besteht nicht nur aus« – er benutzte ganz absichtlich dasselbe Wort wie sie – »Arschlöchern, die etwas von dir wollen.«
»Kann schon sein«, antwortete Astrid. »Aber dann frage ich mich, warum ausgerechnet ich immer wieder auf sie stoßen muß. «
Brenner resignierte, obwohl der Zorn in ihrer Stimme nicht einmal mehr ganz echt klang; eigentlich mehr nachTrotz. Den noch verzichtete er darauf, nachzuhaken, obwohl er vielleicht zum erstenmal eine Chance gehabt hätte, die Mauer zu durchbrechen, die sie zwischen sich und dem Rest der Welt aufgerichtet hatte. Brenner sah sie nur noch einen Moment stirnrunzelnd an, dann drehte er sich weg und trat wieder ans Fenster. Wozu, dachte er. In längstens einer halben Stunde würde Sebastian sie zur Tankstelle bringen, und eine weitere Stunde danach würde er das Mädchen an irgendeinem Bahnhof oder einer anderen Autobahnraststätte absetzen, damit es einem anderen Autofahrer auf die Nerven gehen konnte. Falls es ihn überhaupt begleitete und nicht gleich von der Ortschaft aus seiner Wege ging. Es lohnte sich einfach nicht. Er hatte schon genug am Hals, ohne daß er sich mit den – wirklichen oder eingebildeten – Problemen einer Sechzehnjährigen belastete.
Er sog an seiner Zigarette und inhalierte so tief, daß ihm leicht schwindelig wurde; ein angenehme r Nebeneffekt, wenn man nur Gelegenheitsraucher war. Brenner hörte, wie sich Astrid hinter ihm bewegte und näher kam, aber er widerstand der Versuchung, sich zu ihr herumzudrehen, sondern blickte weiter starr aus dem Fenster.
Draußen begann das Licht matter zu werden. Ein deutlicher Anteil von Grau war jetzt in dem ohnehin blassen Sonnenschein, und die Wolken wirkten nicht dichter, aber irgendwie massiger. Wahrscheinlich würde es wieder schneien. Dabei war heute der vierundzwanzigste März. Soviel zumThemaTreibhauseffekt, dachte er spöttisch.
»Es waren meine Eltern«, sagte Astrid plötzlich. »Ich bin einfach nicht mehr mit ihnen klargekommen, weißt du? Es gab gar keinen großen Krach oder so was. Eines Morgens bin ich wach geworden. Es war noch dunkel. Ich hörte meine Mutter unten in der Küche rumklappern und mußte daran denken, daß sie das tat, solange ich mich erinnern konnte. Jeden Morgen, weißt du? Sie steht immer eine Stunde vor den anderen auf, macht das Frühstück und bereitet alles vor, damit mein Vater und ich aus dem Haus können. Und ich dachte daran, daß… daß ich auch so enden könnte. Eine Stunde vor den anderen in der Küche, mit Morgenmantel und Lockenwicklern im Haar, und … und plötzlich hatte ich das Gefühl, verrückt zu werden. Kannst du das verstehen?«
Fast widerwillig drehte er sich zu ihr herum. Ob er sie verstehen konnte? Beinahe hätte er gelacht. Aber er beherrschte sich und sagte nur sehr ruhig: »Ja, ich glaube schon.«
»Das war alles«, fuhr Astrid leise fort. Sie sprach leise. Ihre Stimme klang nicht einmal bitter, aber es war eine Ausdruckslosigkeit darin, die fast schlimmer war. »Zwei Wochen später bin ich weg. Ich habe ihnen einen Zettel dagelassen, daß sie sich keine Sorgen machen sollen. Mein Vater schuftet sich krumm für sein beschissenes Reiheneckhaus mit Garage, meine Mutter geht dreimal die Woche putzen, wäscht die dreckigen Unterhosen von irgendwelchen fremden Bälgern und tut noch so, als mache es ihr nichts aus, und einmal im Jahr dann nach Ibiza, das ist das Höchste.«
»Das ist mehr, als viele andere haben«, sagte Brenner. »Aber das kann doch nicht alles sein! Das Leben kann doch nicht nur aus Arbeit und Buckeln bestehen.«
»Das tut es aber«, antwortete Brenner. Die Worte des Mädchens machten ihn trauriger, als sie begreifen konnte. Auch er hatte einmal ganz genau so gedacht – er erinnerte sich sogar, einem seiner Freunde einmal fast wörtlich dasselbe gesagt zu haben. Nur hatte er nicht dieselben Konsequenzen wie sie gezogen. Vielleicht, weil er zu vernünftig gewesen war. Vielleicht auch zu feige. War das überhaupt ein Unterschied?
»Hast du versucht, mit deinen Eltern darüber zu sprechen?« fragte er.
Sie nickte und sog hektisch an ihrer Zigarette. »Sie haben nicht einmal begriffen, was ich meinte. Mein Vater hat mir einen Fünfziger in die Hand gedrückt und gemeint, ich solle mir was Hübsches kaufen. «
»Und danach bist du auf und davon«, vermutete Brenner. Sie antwortete nicht.
»Und? Geht es dir seitdem besser?«
»Klar«, antwortete Astrid. »Das siehst du doch, oder?«
»Dann geh zurück«, sagte Brenner. »Mach die Schule zu Ende und – «
»– und studiere, oder lern einen vernünftigen Beruf?« fiel ihm Astrid ins Wort. »Mensch, hör bloß mit dem Scheiß auf. Das kann ich wirklich nicht mehr hören.«