Brenner hütete sich, danach zu fragen, was diese Aufgabe war. Er hatte wenig Lust, sich mit Sebastian auf eine theologische Diskussion einzulassen; schon damit ihm nicht versehentlich herausrutschte, was er von alledem hielt. Wo sie schon einmal beim Thema »gute Taten und der Lohn dafür« waren: er wäre sich ziemlich schäbig vorgekommen, Sebastian für seine Hilfe zu danken, indem er ihm erklärte, daß er das, was er und seine Brüder taten, für eine Art besseren Mummenschanz hielt.
»Werden Sie Ihr Wort halten?« fragte Sebastian plötzlich. Die Frage überraschte ihn. »Ihren Eltern nicht zu verraten, wo sie ist, meinen Sie?« Brenner überlegte einige Augenblicke, ohne wirklich zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Er hatte bisher noch gar nicht darüber nachgedacht – warum auch? Es gab keine Veranlassung, ein einmal gegebenes Wort zu brechen. Schließlich zuckte er mit den Schultern »Ich schätze, es würde niemandem etwas nutzen, wenn ich es breche«, sagte er. »Obwohl es wahrscheinlich richtig wäre. Es ist für ein Mädchen wie sie nicht ga nz ungefährlich, sich ganz allein dort draußen herumzutreiben.«
»Sie sollten sehr vorsichtig sein«, sagte Sebastian. »Sie vertraut Ihnen. Wenn Sie dieses Vertrauen brechen, richten Sie vielleicht mehr Schaden als Nutzen an.«
Als ob er das nicht wüßte! Trotzdem: »Ich fürchte, Sie leben hier wirklich ein bißchen weit weg von der richtigen Welt«, sagte er. »Wissen Sie, was einem sechzehnjährigen Mädchen alles passieren kann, das ganz allein dort draußen ist?«
»Sie ist nicht allein«, sagte Sebastian. »Gott ist hier.«
Die Oberzeugung, mit der Sebastian diese Worte aussprach, machte es Brenner schwer, wirklich zornig zu werden. Er bemühte sich, den gewohnten Zynismus, der sich sonst immer in seine Stimme schlich, wenn er über Religion sprach, ein wenig im Zaum zu halten. Er spürte allerdings selbst, daß es ihm nicht völlig gelang. »Dann hoffe ich nur, er ist auch bei ihr, wenn sie irgendeinem gewissenlosen Kerl in die Hände fällt, der sie vielleicht erst süchtig macht und sie hinterher auf den Strich schickt. Verzeihen Sie … ich will Ihnen bestimmt nicht zu nahe treten, aber ich fürchte, daß – «
»– ich keine Ahnung habe, wie es dort draußen wirklich aussieht?« fiel ihm Sebastian ins Wort. Er schüttelte den Kopf. Er sah ein bißchen verletzt aus, aber nicht zornig. »Weltabgeschieden heißt nicht weltfremd, mein Freund. Oder gar dumm. Ich kenne die Gefahren, von denen Sie sprechen. Ich kenne sie nur zu gut. Ich gebe Ihnen sogar recht – es wäre vernünftiger, Ihr Wort zu brechen und sie nach Hause zu schicken. Wenn Sie es wünschen, benachrichtige ich sofort die Behörden. Ich frage mich nur, was wir ihrer Seele damit antun.«
»Ihrer Seele?« In seiner Stimme war ein Klang von Spott, den er nicht unterdrücken konnte. Es tat ihm leid, daß das Gespräch in diese Richtung zu gehen begann, aber er gab Sebastian mehr die Schuld daran als sich. Wieso hatte er davon angefangen? Brenner hatte nicht einmal daran gedacht, Astrid reinzulegen. Wieso unterstellte er ihm mit seiner Frage eine Absicht, die er nie gehabt hatte?
Sebastians Blick wurde eine Spur härter. »Ihren Glauben daran, daß es noch ein paar ehrliche Menschen auf der Welt gibt, wenn Sie diese Definition dem Wort Seele vorziehen«, sagte er. »Er wäre vielleicht für alle Zeiten zerstört.«
Brenner brachte es auf den Punkt. »Sie wollen sagen, daß ich mich auf jeden Fall falsch entschiede, ganz egal, wie ich mich auch entscheide.«
»Manchmal muß man das Falsche tun, um noch größeres Unheil zu vermeiden«, bestätigte Sebastian. »Und manchmal weiß man vielleicht nicht einmal, welche der beiden Möglichkeiten die falschere ist.«
»Ich … glaube, das verstehe ich nicht ganz«, sagte Brenner verwirrt.
»Vielleicht kommt eines Tages der Moment, an dem Sie es verstehen«, sagte Sebastian. Er stand auf. »Doch nun entschuldigen Sie mich. Es wird Zeit für unser gemeinsames Gebet. Versprechen Sie mir, in diesem Raum zu bleiben, bis ich zurück bin? Es wird nicht lange dauern. Vielleicht eine halbe Stunde. Danach bringe ich Sie und das Mädchen ins Dorf.«
»Gibt es dort eine Bank?« fragte Brenner.
Sebastian war bereits auf dem Weg zur Tür, blieb aber jetzt noch einmal stehen. »Ein Postamt«, sagte er. »Warum?«
»Weil mir nicht nur das Benzin, sondern auch das Bargeld ausgegangen ist«, gestand Brenner. »Eine Tankstelle allein würde mir nicht viel nutzen, fürchte ich.«
Sebastian blickte fragend, und Brenner erklärte ihm mit wenigen Worten, wie das Mädchen und er überhaupt in diese mißliche Lage geraten waren. »In dem einen oder anderen Punkt haben Sie vielleicht sogar Recht, den Fortschritt zu verdammen. Ohne dieses moderne Plastikgeld wären wir gar nicht in diese Verlegenheit gekommen.«
»Und jetzt hätten Sie gerne ein wenig von unserem guten alten Papiergeld«, vermutete Sebastian lächelnd.
»Nur falls die Tankstelle keine Kreditkarten akzeptiert«, antwortete Brenner verlegen – was ihm nach allem, was er heute bereits mit diesem beschissenen Plastikding erlebt hatte, schon so gut wie sicher erschien. Sie hatten nicht viel gewonnen, wenn Sebastian sie ins Dorf brachte und sie von dort nicht weiterkamen. »Ich werde es selbstverständlich zurückerstatten«, sagte er. »Mit Zinsen, versteht sich.«
»Versteht sich«, sagte Sebastian spöttisch. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Auf die eine oder andere Weise werden wir schon eine Lösung finden. Aber nun muß ich gehen. Wenn ich zu spät zum Gebet komme, dann wird Bruder Antonius wirklich zornig.«
Der Anblick traf Salid wie ein Schlag. Vielleicht zum erstenmal, seit sein Leben begonnen hatte, den Regeln von Kampf, Rückzug, Angriff, Verteidigung und Flucht zu gehorchen, wußte er nicht, was er tun sollte; vielleicht nur für eine Sekunde, aber sie schien endlos zu dauern. Er saß einfach da, starrte dem heranrasenden schwarzen Ungeheuer entgegen und konnte regelrecht spüren, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn immer schneller im Kreis drehten, ohne zu irgendeinem vernünftigen Ergebnis, ja, nicht einmal zu einem wirklichen Begreifen der Gefahr zu gelangen, die der Anblick der stählernen Hornisse bedeutete.
Es war auch nicht Salid, der schließlich reagierte, sondern der Pilot. Mit einem Ruck, der Salid halb aus seinem Sitz und gegen die gewölbte Scheibe schleuderte, riß er den Helikopter herum und ein Stück in die Höhe. Das brennende Lager schien unter ihnen wegzusacken wie ein bedruckter Spielzeugteppich, der von der Hand eines Kindes zur Seite gerissen wurde. Die Maschine taumelte. Der Pilot hatte sie nicht gut in der Gewalt, und Furcht und Hast machten ihn noch unsicherer. Für eine Sekunde war Salid fast sicher, daß er jetzt endgültig die Kontrolle über die Situation verloren hatte.
Trotz allem arbeitete einTeil seines Bewußtseins – der gleiche, der ihn schon vorhin auf seine eigenen Fehler aufmerksam gemacht hatte – mit der gewohnten Präzision weiter. Er sah, daß der Apache, der sich plötzlich nicht mehr neben, sondern ebenfalls unter ihnen befand, immer mehr anTempo verlor und dabei tiefer ging, und während die Zeit und damit die winzige Chance, die sie – vielleicht – gehabt hatten, erbarmungslos verstrich, wurde ihm klar, was geschehen war: Der Apache war nicht gekommen, um sie abzuschießen. Er würde es tun, zweifellos, sobald der Pilot seine Oberraschung überwunden und begriffen hatte, wer
in dem Chopper saß, der wie ein Phönix aus dem brennenden Lager aufgestiegen war.
Aber noch hatte er es nicht begriffen. Sie saßen in einer Maschine, die die gleichen Hoheitszeichen trug wie der Apache. Und die bewaffnet war. Hätten sie sofort das Feuer eröffnet, hätten sie eine gute Chance gehabt, den Apache abzuschießen oder zumindest so schwer zu beschädigen, daß sie entkommen konnten.
Das Begreifen dieser Chance und die Erkenntnis, daß es wahrscheinlich zu spät war, kamen fast im gleichen Moment. Das Schicksal hatte ihnen noch einmal drei oder vier Sekunden geschenkt, und sie hatten sie vertan. Der Mann hinter den Kontrollen des Apache war kein Narr. Er konnte es nicht sein, oder er hätte nicht in dieser Maschine gesessen. Salids Verachtung für die Amerikaner ging nicht so weit, ihnen Dummheit zu unterstellen.