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Salid richtete sich mühsam in seinem Sitz auf, drehte sich zu dem jungen Piloten um – und begriff, daß er erneut einen Fehler begangen hatte.

Er war nicht der einzige, der die Chance sah, die sich ihnen bot. Aber anders als er hatte der Pilot nicht verstanden, wie flüchtig sie gewesen war; vielleicht nicht einmal wirklich, sondern nur ein böser Scherz, den sich das Schicksal mit ihnen erlaubt hatte.

»Nein! « schrie er. »Tu es – «

Es war zu spät. Der Chopper führte die begonnene Drehung zu Ende und beschleunigte so abrupt, daß Salids Worte in einem überraschten Keuchen untergingen, als er zurück in den Sitz geworfen wurde. Gleichzeitig senkte sich der Daumen des Piloten auf den Feuerknopf, der in den Steuerknüppel integriert war. In das hysterische Flappen der Rotoren mischte sich das Hämmern eines Maschinengewehrs, und fast im gleichen Moment löste sich eine Rakete aus dem Waffenträger, der an der rechten Kufe des Choppers hing, und raste wie eine winzige weißglühende Sonne auf den Apache zu.

Die MG-Salve saß genau im Ziel. Funken sprühten aus der Panzerung des Apache, und für den Bruchteil einer Sekunde klammerte sich Salid gegen jede Überzeugung an die verzweifelte Hoffnung, daß auch die Rakete treffen würde.

Vielleicht hätte sie es sogar, wäre der Pilot des Apache nicht tatsächlich so gut gewesen, wie Salid befürchtet hatte.

Über die Entfernung hinweg war nicht zu erkennen, ob die MG-Salve Schaden angerichtet hatte oder nicht. Aber wenn überhaupt, dann nicht genug. Die Maverick-Rakete näherte sich dem Helikopter mit rasender Geschwindigkeit, doch im allerletzten Moment vollführte der Apache einen regelrechten Satz zur Seite, und das Geschoß verfehlte ihn so knapp, daß sein Feuerschweif den Lack ansengen mußte. In einer lodernden Flammensäule explodierte es tief unter ihm.

»Weg! « brüllte Salid. »Verdammt, weg hier!«

Vielleicht war dies sein letzter Fehler, aber wahrscheinlich hatten sie ihre Karten ohnehin schon zu sehr überreizt. Sie näherten sich dem Apache noch immer, und möglicherweise hätte der Pilot einer zweiten Maverick nicht mehr ausweichen können. Doch Salids Schrei hatte den jungen Piloten vollends verunsichert. Er zögerte, eine Sekunde nur, und vielleicht sogar weniger, doch plötzlich loderten unter dem Bug des feindlichen Helikopters orangerote Funken. Salid spürte, wie irgend etwas den Chopper traf, nicht einmal sehr laut oder hart, ein schnelles, trockenes Plopp-plopp-Plopp-plopp, wie Hagel auf einem Wellblechdach. In der Kanzel neben ihm war mit einem Male eine geschwungene Reihe kleiner, von Sprüngen gesäumter Löcher, durch die eisiger Wind hereinpfiff. Der Mann hinter Salid schrie auf und brach im Sitz zusammen, und der Gestank von Blut und heißem Öl erfüllte die Kanzel.

Die Salve, so verheerend ihre Wirkung auch gewesen war, verschaffte ihnen noch einmal eine Gnadenfrist. Die pure Aufprallwucht hatte den Chopper aus der Bahn geworfen, so daß der Großteil der Geschosse ins Leere ging, statt die Maschine einfach in der Luft zu zerreißen. Der Helikopter taumelte, näherte sich einen Moment lang in einer immer enger werdenden Spirale dem Boden und kippte dann wieder in die Waagerechte, als der Pilot noch einmal die Gewalt über ihn zurückgewann.

»Nach Osten! « schrie Salid. »Schnell! « Er erinnerte sich an die kleine Ortschaft, durch die sie in der vergangenen Nacht gekommen waren, nur ein Dutzend Häuser, vielleicht sogar weniger, aber auch nur fünf oder sechs Kilometer entfernt. Mit etwas Glück konnten sie es bis dorthin schaffen, ehe die Maschine endgültig den Geist aufgab und sie landen mußten. Der Pilot des Apache würde es nicht wagen, über dem Ort das Feuer auf sie zu eröffnen.

Der Pilot begann zu lamentieren, während der Steuerknüppel unter seinen Händen immer heftiger zu bocken anfing. »Warum hast du mich nicht schießen lassen? Ich hätte ihn treffen können. Ich weiß, daß ich ihn erwischt hätte! «

Vielleicht stimmte das sogar. Salid war trotzdem nicht gewillt, ihm seinen Fehler zu verzeihen; so wenig, wie er bereit war, sich selbst zu vergeben. Aber dies war nicht der Moment, darüber zu reden.

Während sie dicht über den Wipfeln des verschneiten Waldes nach Osten jagten, drehte sich Salid in seinem Sitz herum und sah zurück. Der Mann auf der hinteren Sitzbank war tot. Das MG-Geschoß hatte ein fast faustgroßes Loch durch seine Brust und die Wand hinter ihm geschlagen, durch das Salid einen Blick auf die zerfetzten mechanischen Eingeweide des Hubschraubers werfen konnte. Aus einem zerrissenen Kabel sprühten Funken. Ein dünner Nebel aus Öl oderTreibstoff wurde vom Fahrtwind davongerissen. Es grenzte an ein Wunder, daß sich die Maschine überhaupt noch in der Luft hielt.

Salid glaubte nicht, daß das noch lange so bleiben würde.

»Du hättest sie nicht hierherbringen dürfen«, sagte Bruder Antonius. Er hatte noch neun Minuten zu leben, aber das wußte er natürlich nicht. Vielleicht hätte dieses Wissen nicht einmal etwas an seinen Worten geändert oder dem, was er beim Anblick des zerknirschten, ein ganz kleines bißchen aber auch trotzig aussehenden Gesicht seines Gegenübers empfand.

Antonius war der älteste der neun Wächter, die ihre Gemeinschaft bildeten, und nicht nur aufgrund seines hohen Alters – niemand kannte es genau, nicht einmal er selbst, aber Antonius war schon alt gewesen, als der letzte Krieg mit Feuer und Tod über dieses Land hinweggefegt war – unterschied sich seine Einstellung dem Sterben und demTod gegenüber grundlegend von der der meisten anderen Menschen. Vielleicht, weil er und die acht anderen ein wenig mehr darüber wußten; und über das, was danach kam.

Die Lebenserwartung Bruder Sebastians – dem diese Worte galten – betrug in diesem Moment gut fünf Sekunden mehr als die des Alten. Er würde zwar als letzter sterben, aber auf ungleich schrecklichere Weise als die anderen, und vielleicht war das die Strafe, die das Schicksal für seine Verfehlung bereithielt. Auf seine Antwort hätte dieses Wissen Einfluß gehabt; denn von allen hier hatte er die weltlichste Einstellung zum Leben und den vermeintlichen Freuden, die es bereiten konnte. Bruder Antonius wußte das, und es bereitete ihm Sorge, so wie Bruder Sebastian ihm immer ein wenig Sorge bereitet hatte, seit er in den Orden der Wächter aufgenommen worden war. Es war nicht seine Schuld. Bruder Sebastian war bemüht und eifrig, und er war durchaus fähig, die ihm gestellten Aufgaben zu bewältigen. Es lag nicht an dem, was er sagte oder tat, daß Bruder Antonius ihm stets mit einem latenten Mißtrauen begegnete und einer daraus resultierenden, vielleicht zu großen Strenge. Es lag an dem, was er war.

Sebastian war das notwendige Bindeglied, die nicht gewollte, aber notwendige Nahtstelle, an der ihre Welt mit der dort draußen verbunden war. Sebastian hatte maßlos untertrieben, als er behauptete, das Leben im Kloster wäre manchmal ein wenig einsam.

Tatsache war, daß es auf der ganzen Welt überhaupt nur eine Handvoll Menschen gab, denen die Existenz des Klosters bekannt war, und von dieser Handvoll wiederum nur einige wenige, kaum mehr als zwei oder drei – von denen übrigens keiner in Rom lebte – , wußten, was dieser Orden wirklich war.

Das mußte auch so sein. Antonius und seine Vorgänger hatten viel Zeit und Energie darauf verwandt, dafür zu sorgen, daß die Welt nichts von ihrer Existenz erfuhr. Das Kloster war so gut wie autark. Der Wald und der kleine Gemüsegarten lieferten ausreichend Lebensmittel, um ihre bescheidenen Ansprüche zu decken, der Fluß Trinkwasser und Strom für das kleine Kraftwerk, das vor zehn Jahren – gegen Antonius' innere Überzeugung – im Keller eingebaut worden war. Neben der Mauer aus Stahl und Dornengestrüpp, die das Kloster umgab, existierte noch eine zweite, unsichtbare Wand, die sie schützte, eine Wand aus Schweigen und Vergessen, die ungleich massiver war als der Gitterzaun und der Wald.