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Brenner lächelte beinahe gegen seinen Willen. »Fünfunddreißig Stufen kopfüber eine Steintreppe hinunterstürzen und sich dabei nicht einen einzigen Knochen zu brechen ist ziemliches Glück, denke ich«, sagte er. »Jeder Stuntman wäre neidisch darauf – jedenfalls hat man es mir so erzählt.«

»Sie erinnern sich nicht?«

Brenner schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und fügte in bewußt übertrieben gequältem Ton hinzu: »Aber es muß wohl was dran sein. Ich fühle jede einzelne Stufe, auf die ich aufgeschlagen bin. Aber es müssen mehr gewesen sein als fünfunddreißig … so an die viertausend, schätze ich, und ein paar habe ich wohl doppelt genommen.«

Johannes lachte – aber es klang eher pflichtschuldig als wirklich amüsiert, und als er weitersprach, hörte Brenner den gespannten Unterton in seiner Stimme zu deutlich, um ihn sich nur einzubilden. »Was ist eigentlich passiert? Ich meine: nicht nur Ihnen, sondern überhaupt? Ich habe etwas von einem Brand gehört, und einer Explosion … «

Er wollte antworten, aber dann starrte er statt dessen für endlose Sekunden schweigend dorthin, wo Johannes' Gestalt als flackernder Schemen durch den grauen Nebel trieb, und

ließ seine Frage noch drei-oder viermal hinter seiner Stirn nachhallen, aber er kam zu keiner befriedigenden Antwort. Ja, was ist eigentlich passiert?

Tatsache war: er wußte es nicht. Nicht wirklich. In seinem Kopf waren Bilder, Gefühle, Lärm … ein sinnloses Durcheinander, als hätte jemand nicht nur ein, sondern gleich fünf oder auch zehn verschiedene Puzzlespiele genommen und die Teile wild durcheinandergemischt. Und das war nicht einmal das Schlimmste. Wenn er bisher an seinen Unfall zurückgedacht hatte – was bislang nicht der Fall gewesen war,aber manchmal, etwa wenn er mit einem der Ärzte sprach, eben doch – , so hatte er es mit einer Art heiterer Gelassenheit getan; etwas, was ihn nicht wirklich interessierte, zumindest nicht wirklich berührt hatte. Jetzt fragte er sich zum erstenmal, ob er sich tatsächlich nicht erinnern konnte – oder vielleicht gar nicht wollte.

Die Vorstellung erschreckte ihn. Er war kein Psychologe, aber wie jedermann hatte er genug einschlägige Filme gesehen und Bücher gelesen, um zu wissen, was der Begriff »Verdrängung« bedeutete. War das, was er erlebt hatte, vielleicht so schlimm, daß er sich mit gutem Grund nicht daran erinnerte, oder

»Habe ich etwas Falsches gefragt?« Johannes' Stimme drang wie eine Rettungsleine in seine Gedanken. »Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Das haben Sie nicht«, versicherte Brenner. Das tue ich schon ganz allein. »Aber ich fürchte, ich erinnere mich nicht. Alles ist … sehr verwirrend.«

»Partielle Amnesie.« Er konnte hören, wie Johannes' Jacke raschelte, als er nickte. Das Geräusch klang teuer. Vielleicht nach Seide. »Das ist ganz und gar nichts Ungewöhnliches ineinem solchen Fall. Überhaupt kein Grund zum Erschrecken. Meistens kehrt das Gedächtnis nach ein paarTagen von selbst zurück.«

So wie mein Augenlicht? »Meistens?«

»Fast immer«, verbesserte sich Johannes hastig. Nach ein paar Sekunden tat er es noch einmal und sagte: »Immer.«

»Vorsicht, Herr Pfarrer«, sagte Brenner spöttisch. »Da gibt es doch irgendein Gebot, das das Lügen verbietet, oder?« Johannes lachte. Diesmal klang es echt.

»Es muß Pater heißen«, sagte er amüsiert. »Und dieses Gebot gibt es tatsächlich, ja … « Er seufzte. »Langsam glaube ich, daß es vielleicht keine so gute Idee war, hierherzukommen. Ich scheine mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Soll ich wieder gehen?«

»Nein«, sagte Brenner rasch. »Ich bin ein bißchen nervös. Es ist … nicht besonders angenehm, so daliegen zu müssen und nicht einmal etwas zu sehen. Sie haben nicht zufällig irgendwo ein klitzekleinesTransistorradio herumstehen?«

»Hier nicht. Aber ich werde zu Hause nachsehen. Wenn ich etwas Passendes finde, bringe ich es Ihnen morgen mit. Sie halten Sie hier ziemlich kurz, was Informationen angeht, wie?«

»Ja. Als Gegenleistung halten sie mir die Journalisten vom Leib.«

»Seien Sie froh«, sagte Johannes überzeugt. »Es hat schon nachgelassen, aber in den beiden erstenTagen war es eine richtige Belagerung. Die Kerle haben sogar in den Bäumen gehockt und versucht, mit Teleobjektiven Aufnahmen von Ihrem Zimmer zu machen. Deshalb hat man wohl auch das Fenster verdunkelt. «

Das war eine neue Information, die Brenner eigentlich hätte erleichtern sollen – statt dessen ärgerte sie ihn. Kein Wunder, daß er das Fenster auch tagsüber nicht sehen konnte. Es hätte ihm eine Menge Grübeleien erspart, hätte er gewußt, warum das Fenster dunkel blieb.

»Wenn das so ist, dann können Sie mir wahrscheinlich viel eher erzählen, was passiert ist«, sagte er.

»Kaum«, antwortete Johannes in bedauerndem Ton. »Die Zeitungen überbieten sich in den wildesten Spekulationen, aber niemand weiß wirklich mehr, als daß es eine Explosion gegeben hat und anschließend ein gewaltiges Feuer. Die Polizei hat das ganze Gelände abgesperrt und läßt niemanden auch nur in die Nähe.«

Eine blitzartige Vision: Ein schwarzer Schemen, der auf einem Feuerstrahl ritt und heulend auf ihn zujagte. Das Bild erlosch, ehe er erkennen konnte, was da auf ihn zukam, und es war zu bizarr, um wirklich zu sein. Ein Stück aus einem Puzzle, das nicht zu ihm gehörte. Er fragte sich, ob er das wirkliche Bild unter all diesen falschen Teilen überhaupt jemals wiederfinden würde.

»Es war… eine Art Kloster, nicht wahr?«

Brenner hob die Schultern. »Sollten Sie nicht der Spezialist für Klöster und Kirchen sein?«

»Ja«, antwortete Johannes. »Sie sind Versicherungsagent, nicht?«

»Und?«

»Kennen Sie alle Agenturen in der Stadt? Oder sogar im ganzen Land?«

»Touche«, sagte Brenner. >ja. Ich glaube, es war … eine Art Kloster. Wir sind mit dem Wagen liegengeblieben und wollten … telefonieren.«

»Wir?«

»Dieses Mädchen und ich.« Was für ein Mädchen? »Was für ein Mädchen?«

Eine neue Vision, noch kürzer als die erste, aber ungleich deutlicher: ein schmales, von dunklem Haar eingerahmtes Gesicht mit Augen, in denen ein tiefverwurzeltes Mißtrauen gegen das Leben war; vielleicht die Spuren einer alten Verletzung, die niemals ganz vernarben würde. Er war sicher, daß dies einTeil des richtigen Bildes war, vielleicht das erste überhaupt bisher. Er versuchte es festzuhalten, aber es entglitt ihm.

»Eine … Anhalterin?« antwortete er zögernd. »Ich habe sie … mitgenommen …, glaube ich.«

Es war nicht nur bizarr; das Phänomen begann in ihm so etwas wie fast wissenschaftliche Neugier zu wecken: Die Erinnerungen kehrten im gleichen Moment zurück, in dem er die Worte aussprach, und es war genau andersherum, als es sein sollte: die Worte weckten Bilder in ihm, nicht umgekehrt.

Plötzlich war er sehr aufgeregt. Vielleicht hatte er ganz aus Versehen endlich die richtige Tür gefunden und mußte den Weg nur konsequent weitergehen, um sich an alles zu erinnern. »Wissen Sie, wie sie hieß?«

»Nein«, antwortete Brenner. »Wir sind nur ein Stück zusammen gefahren. Danach … ja, das Benzin ist mir ausgegangen. Wir mußten zu Fuß weitergehen, aber es war sehr kalt, und als wir den Weg fanden … «

»Den Weg zum Kloster?«

Der Zauber erlosch. Er sah die verschneite Straße und ihre beiden nebeneinanderliegenden Spuren, aber danach nichts mehr. Wo der Weg in den Wald hineinführte, war nichts mehr, nur Dunkelheit. Die Worte hatten aufgehört, Bilder zu gebären. Seine Phantasie spielte ihm sogar einen besonders perversen Streich: das schwarze Stück fehlender Realität, das den Beginn des Waldweges verdeckte, hatte tatsächlich die Umrisse eines Puzzleteiles …

»Möglich«, sagte er. »Ich … weiß es nicht genau.«

»Und dieses Mädchen?« Johannes klang eindeutig mehr als nur interessiert. »Wissen Sie ihren Vornamen? Oder wie sie ausgesehen hat?«

»Ich – «

DieTür wurde aufgerissen, und eine sehr laute, sehr zornige Stimme fragte: »Was, zum Teufel, ist denn hier los?! «