Etwas scharrte – die Hartgummistopfen an den Beinen von Johannes' Stuhl, als er mit einem erschrockenen Ruck hochsprang – , dann waren energische Schritte zu hören und dann wieder die scharfe Stimme, die Brenner jetzt als die eines der Ärzte identifizierte.
»Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?« »Ich – «
»Verlassen Sie dieses Zimmer! Auf der Stelle! «
»Bitte, Herr Doktor«, sagte Johannes besänftigend. »Es gibt gar keinen Grund, sich aufzuregen. Ich bin nur hier, um – « Brenner konnte hören, wie der Arzt Johannes mit einer energischen Bewegung das Wort abschnitt. Der weiße Arztkittel raschelte anders als das Jackett des Geistlichen.
»Warum Sie hier sind, das werden wir gleich klären – draußen und in Gegenwart der Polizei. Und jetzt verlassen Sie dieses Zimmer. Der Patient braucht absolute Ruhe. Was Sie hier tun, ist nicht nur Hausfriedensbruch, sondern auch unverantwortlich!«
»Aber ich bitte Sie! « begann Johannes, kam aber auch jetzt nicht dazu, weiterzureden, denn er wurde erneut unterbrochen: »Nein, ich bitte Sie zum letztenmal, dieses Zimmer zu verlassen. Wenn Sie nicht unverzüglich gehen, rufe ich die Polizei!« Brenner war dem hitzigen Gespräch bisher schweigend, aber mit wachsender Verwirrung gefolgt, aber nun richtete er sich auf, soweit er es konnte, und wandte sich an den Arzt. »Was ist denn los? Ich habe zwar nicht um geistlichen Beistand gebeten, aber das ist doch kein Grund – «
»Geistlicher Beistand?« Der Arzt lachte humorlos. »Hat er sich etwa als Seelsorger vorgestellt?«
»Ist er das denn nicht?« fragte Brenner verwirrt. Er sah nach rechts, aber Johannes' Schatten war verschwunden. Seine Welt war klein geworden. Ein einziger Schritt reichte, um vom Schemen zur körperlosen Stimme zu werden. »Ich dachte, er wäre der Krankenhauspfarrer. «
»Jedenfalls nicht bei uns«, antwortete der Arzt. Brenner konnte hören, wie er sich wieder zu Johannes herumdrehte. »Sie sind ja immer noch da! «
»Bitte, Herr Doktor! « sagte Johannes. »Ich verstehe ja Ihre Erregung, aber ich muß unbedingt – «
»Schwester Annegret, rufen Sie die Polizei«, sagte der Arzt kühl.
Johannes atmete hörbar ein. »Das ist nicht nötig«, sagte er, nun in resignierendem Tonfall. »Ich gehe. Bitte entschuldigen Sie mein Eindringen. Und – Herr Brenner, bitte versuchen Sie, sich an das Mädchen zu erinnern. Es ist sehr wichtig.«
Brenner hörte, wie er um das Bett herumging und mit schnellen Schritten das Zimmer verließ. Eine Frauenstimme, die er bisher noch nicht gehört hatte, fragte: »Soll ich die Polizei rufen, Herr Professor?«
»Nein«, antwortete der Arzt nach kurzem Überlegen. Jetzt erinnerte sich Brenner auch an den Namen: Schneider. Professor Schneider. »Der kommt nicht wieder. Das ganze Aufheben lohnt sich sowieso nicht.«
Er drehte sich geräuschvoll wieder zu Brenner herum und kam näher, so daß er von einer körperlosen Stimme wieder zu einem weißen Schemen ohne erkennbares Gesicht wurde. Im ersten Moment dachte Brenner, er spräche direkt zu ihm, aber als er es tat, bewegten sich Ausläufer des weißen Schemens nach oben; er hantierte an seinen elektronischen Wächtern, während er weiterredete:
»Ich hoffe, der Kerl hat Sie nicht zu sehr aufgeregt. Ich werde den Leuten am Empfang gehörig den Kopf waschen – so was kommt nicht noch mal vor, das verspreche ich Ihnen.«
»Ich … ich verstehe überhaupt nicht, was los ist«, antwortete Brenner verwirrt. »War er denn kein Pater?«
Der Professor schnaubte abfällig. »Ich weiß nicht, wer dieser Kerl ist, aber ich kann Ihnen sagen, wofür ich ihn halte.« »Und für wen?« erkundigte sich Brenner. »Höchstwahrscheinlich ein Reporter«, antwortete Schneider. »Sie glauben nicht, auf welche Ideen diese Kerle kommen, wenn sie hinter einer Story her sind. Denen ist absolut nichts heilig. Was haben Sie ihm erzählt?«
»Nichts«, sagte Brenner. »Die meiste Zeit hat er geredet, um ehrlich zu sein.«
»Dann sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen. So … das hätten wir.« Er hörte auf, an den Geräten neben Brenners Bett zu spielen, und beugte sich nun doch direkt über ihn. »Und wie fühlen wir uns heute?«
Brenner konnte sich gerade noch einen abgedroschenen Kalauer verkneifen: Mir geht es gut, Herr Doktor, aber Ihnen … ? Statt dessen zuckte er mit den Achseln und sagte: »Nicht viel besser als gestern, um ehrlich zu sein. Ich kann immer noch nichts sehen.«
»Ja, das habe ich schon gehört. Der Augenarzt ist morgen nicht im Haus, aber übermorgen werde ich gleich noch einmal mit ihm reden, das verspreche ich Ihnen.«
Brenner erschrak. Noch zwei Tage als Gefangener in dieser Welt, die nur aus grauen Schemen und Ungewißheit bestand? »Ist das denn … notwendig?« fragte er stockend.
Seiner Stimme mußte wohl sehr viel mehr Erschrecken anzuhören sein, als ihm selbst bewußt gewesen war, denn der Arzt beeilte sich plötzlich, zu versichern: »Sie werden wieder sehen können, keine Angst. Der Kollege hat mir versichert, daß Ihre Sehnerven keinen bleibenden Schaden davongetragen haben. Aber Sie müssen sich noch ein wenig gedulden.«
»Und was heißt ein wenig?« fragte Brenner. »DreiTage? Drei Wochen? Drei Monate?«
Eine Sekunde lang, die durch das graue Zwielicht, in dem er trieb, auf das Zehnfache ihrer normalen Länge gedehnt wurde, herrschte lastendes Schweigen, das Schneider mit einem kurzen und kein bißchen überzeugend klingenden Lachen beendete. »Seit wann bekommt man von einem Arzt eine konkrete Auskunft?« fragte er.
»Manchmal geschehen eben noch Zeichen und Wunder.« »Vielleicht – aber dafür wäre dann wohl eher der Herr zuständig, der gerade gegangen ist … Im Ernst: ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet, und ich will dem Kollegen auch nicht vorgreifen, aber ich denke, in den nächsten Tagen müßte sich eine spürbare Besserung einstellen. Und jetzt haben Sie, glaube ich, genug Aufregung für einen Tag gehabt. Versuchen Sie ein bißchen zu schlafen.«
Brenner ersparte es sich, zu antworten. Wenn er in den gut drei Tagen, die er jetzt hier war, eines begriffen hatte, dann, daß es vollkommen sinnlos war, mit den Ärzten diskutieren zu wollen.
Also ließ er sich zurücksinken und schloß die Augen obwohl es nahezu überflüssig war – , während sich die Schritte des Professors und der Schwester entfernten, und gegen seine eigene Erwartung schlief er ein, noch ehe er das Geräusch der Tür hörte.
Er hatte wieder einen Alptraum, aber diesmal träumte er nicht von Skorpionen, die aus den Rissen einer verblassenden Welt krochen, um die Menschen zu quälen, sondern von einem Mädchen ohne Gesicht.
Zumindest am Anfang.
Nach allem war es am Schluß beinahe schon zu leicht gewesen. Wäre Salid noch der Mann gewesen, als der er vor einer Weile in dieses Land gekommen war, dann hätte er höchstwahrscheinlich sogar so etwas wie Enttäuschung empfunden; denn was ihm als die größte Herausforderung seines bisherigen Lebens erschienen war, entpuppte sich nach drei Tagen als Kinderspiel.
Salid liebte Herausforderungen. Mehr: er brauchte sie, so dringend wie ein Süchtiger seine Droge und ebenso regelmäßig und in steigender Dosierung. Übrigens auch mit dem gleichen, unvorhersehbaren Ende.
Er streckte die Hand nach demTürgriff aus, zog sie aber dann noch einmal zurück, um einen letzten, sichernden Blick in die Runde zu werfen; ein Verhalten, das ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, daß er schon gar nicht mehr anders konnte – selbst wenn es vollkommen überflüssig war, wie jetzt. Er hatte den Wagen auf einem Parkplatz schräg gegenüber der Klinik abgestellt, den er bei seiner ersten Erkundung heute nachmittag entdeckt hatte. Er war ideal – Salid konnte die Straße in beiden Richtungen überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Es gab zwar eine doppelte Reihe modern gestylter Laternen, die die Straße auch nachts fast taghell erleuchteten, aber dazwischen auch eine noch dichter gestaffelte Doppelreihe ebenso sorgfältig gestylter Platanen, die hinlänglich Schatten spendeten, um den Wagen nahezu unsichtbar zu machen. Auch in anderer Hinsicht war die Straße ideaclass="underline" mit Ausnahme des Krankenhauses selbst gab es nur mittlere bis große Einfamilienhäuser, meist hinter gepflegten Vorgärten oder halbhohen Hecken gelegen und mit großem Abstand zu ihren Nachbarn. Somit hatte er buchstäblich Dutzende von Fluchtwegen zur Auswahl.