Nicht, daß er sie brauchte.
Was vor ihm lag, war vielleicht der schwerste Kampf, den er in seinem ganzen Leben würde ausfechten müssen, und er hatte bisher nicht einmal eine Ahnung, wie er ihn bestehen sollte,
aber eines wußte er mit Sicherheit: er würde nach vollkommen anderen Spielregeln ablaufen als alles, was er kannte. Trotzdem: Salid konnte nun einmal nicht aus seiner Haut. Er ließ weitere fünf Sekunden verstreichen, in denen er die Straße aufmerksam beobachtete, dann stieg er aus dem Wagen und überquerte mit schnellen Schritten die Straße. Er war dunkel gekleidet – nicht schwarz, das wäre zu auffällig gewesen – , und er bewegte sich gerade schnell genug, um nicht wirklich zu hasten; ein Passant, der es eilig hatte, aber nicht so eilig, daß er aufgefallen wäre. Niemand würde sich später an den Mann in dunklen Flanellhosen und blauem Cordsakko erinnern, selbst wenn es der Zufall wollte, daß jemand zu dieser Uhrzeit aus dem Fenster sah. Ein weiterer Reflex aus seinem früheren Leben, der vollkommen sinnlos geworden war. Er wurde nicht gejagt. Der Gegner, mit dem er es diesmal zu tun hatte, hatte es nicht nötig, seine Opfer zu hetzen. Er wartete, bis sie zu ihm kamen.
Salid sah auf die Uhr, während er die Straße überquerte und sich im spitzen Winkel dem Krankenhaus näherte; der Pförtner in seiner trübgelb erhellten Loge würde ihn so nicht sehen können. Die Videokamera, die er während seiner Patrouillenfahrt am Tage entdeckt hatte, bereitete ihm etwas größere Sorgen, aber auch damit würde er fertig werden. Vermutlich war sie nicht permanent eingeschaltet oder zumindest nicht mit einem Recorder gekoppelt. Wer würde schon einen harmlosen nächtlichen Spaziergänger aufnehmen?
Er näherte sich dem Eingang und blieb im Schatten eines Strauches stehen. Der Pförtner sah genau in seine Richtung, aber Salid wußte, daß er ihn nicht sehen konnte; die Pförtnerloge war hell erleuchtet, während die Lampen hier draußen allenfalls zur Dekoration gut waren. Trotzdem erstarrte er für einen Moment zur Reglosigkeit, bis der Pförtner den Blick wieder auf die Zeitschrift senkte, mit der er sich die Langeweile vertrieb.
Salid wartete. Er hatte noch keinen konkreten Plan – in das Krankenhaus hineinzukommen stellte kein Problem dar, aber er wußte weder, in welchem Zimmer sich die Person befand, nach der er suchte, noch, in welchem Zustand er sie antreffen würde. Er würde improvisieren müssen.
Das Klingeln einesTelefons drang gedämpft an sein Ohr. Salid sah, wie der Pförtner nach dem Hörer griff und einige Sekunden lang lauschte, dann aber heftig und ganz offensichtlich nicht besonders gut gelaunt zu gestikulieren begann. Schließlich hängte er ein, stand auf und verließ die Loge. Salid sah, daß er stark humpelte – das war von Vorteil, denn es bedeutete, daß er sich nicht besonders schnell bewegen konnte. Es sah so aus, als hätte er Glück; zumindest eines seiner Probleme schien sich gerade von selbst erledigt zu haben.
Er wartete, bis der Mann verschwunden war, zählte in Gedanken dann noch einmal langsam bis fünf und betrat das Krankenhaus. Der Pförtner war so leichtsinnig gewesen, wie Salid gehofft hatte: Die Kabine war nicht abgeschlossen. Salid schlüpfte rasch durch die Tür, trat an den Schreibtisch und stellte ohne besondere Enttäuschung fest, daß es keine Patientenliste gab. Der Schreibtisch war leer bis auf eine aufgeschlagene Auto-Zeitschrift und einen halbvollen Aschenbecher. Auf einem kleinenTischchen daneben stand ein Computerterminal; der Monitor war ausgeschaltet, aber das Gerät selbst befand sich im Stand-by-Modus. Salid kannte sich hinlänglich mit Computern aus, um das System zu starten und auf diese Weise herauszubekommen, in welchem Zimmer sich der Gesuchte befand, aber er zögerte trotzdem. Er wußte nicht, wohin der Pförtner gegangen war, geschweige denn, wie lange er wegbleiben würde. Es bestand die Gefahr, daß der Mann ihn überraschte, während er noch mit dem Terminal beschäftigt war, und Salid hätte es bedauert, ihn töten zu müssen.
Er wollte sich gerade herumdrehen und die Pförtnerloge wieder verlassen, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Jemand kam auf das Krankenhaus zu. Ein Schatten, der geduckt an der Fassade entlangschlich und dabei versuchte, die spärliche Deckung auszunutzen, die die Architektur des Ge'' bäudes und die wenigen, lieblos aufgestellten Pflanzenkübel bo= ten. Er stellte sich dabei nicht einmal besonders geschickt an, aber er bewegte sich mit einer Art natürlicher Eleganz, die ihn vor den Blicken eines etwas weniger aufmerksamen Beobachters, als es Salid war, geschützt hätte.
Die meisten anderen Männer wären jetzt vielleicht erschrocken zusammengefahren oder hätten hastig versucht, sich hinter die nächstbeste Deckung zu ducken. Salid nicht. Er erstarrte zur Salzsäule. Wer immer dort draußen heranschlich, beobachtete die Pförtnerloge zweifellos ebenso aufmerksam, wie er selbst es vorhin getan hatte. Wenn er sich bewegte, würde der andere ihn entdecken; wenn nicht, hatte er eine gute Chance, nur ein Schatten unter Schatten zu sein. Das menschliche Auge war das eines Jägers, das auf Bewegung reagierte, weniger auf das, was es sah. Salid stand mit angehaltenem Atem da und beobachtete die sich nähernde Gestalt aus den Augenwinkeln.
Nach einigen Momenten revidierte er seine Meinung über den Fremden – der Mann stellte sich sogar ausgesprochen ungeschickt an. Selbst der Pförtner, der sich eindeutig mehr für seine Lektüre als seine eigentliche Aufgabe interessiert hatte, hätte ihn unweigerlich entdecken müssen. Von der Videokamera über dem Eingang ganz zu schweigen.
Die Gestalt wurde immer langsamer, je weiter sie sich dem Eingang näherte. Salid konnte jetzt erkennen, daß es ein Mann in einem dunklen und offenbar viel zu weiten Mantel war. Er blieb immer wieder stehen, duckte sich, richtete sich wieder auf, bewegte sich nach rechts, links – es waren die typischen Bewegungen eines Mannes, der etwas tat, was er eigentlich nicht wollte. Und er war nicht nur kein Profi, dachte Salid abfällig, sondern eindeutig ein Dilettant. Aber das war immer noch keine Antwort auf die Frage, was der Fremde hier eigentlich tat.
Die Gestalt kam näher, und für einen Moment richtete sich ihr Blick direkt auf Salid. Das schwache Sternenlicht glitzerte auf dunklen Pupillen, deren Blick sich unmittelbar in Salids Augen zu bohren schien. Vollkommen still stehend und darauf vertrauend, daß seine Reglosigkeit bewirkte, wozu die Dunkelheit in der Pförtnerloge allein vielleicht nicht ausgereicht hätte, wurde Salid wieder zu dem, was er für einen großen Teil seines Lebens gewesen war: ein Schatten.
Was so oft funktioniert hatte, verfehlte seine Wirkung auch diesmal nicht. Es gab keine Reaktion; kein Stocken im Schritt, kein erschrockenes Zusammenfahren; nichts. Der Mann ging rasch weiter und trat durch die auseinandergleitenden Glastüren, während sein Blick aufmerksam weiter abwechselnd die Vorhalle und das Innere der Pförtnerloge taxierte.
Salid begann nun doch allmählich nervös zu werden. Er wußte nicht, wohin der Pförtner gegangen war, aber er hätte hier bestimmt nicht alles offengelassen, hätte er vor, länger als ein paar Minuten wegzubleiben. Trotzdem verharrte Salid weitere fünf Sekunden in vollkommener Reglosigkeit, ehe er sich herumdrehte und dem Mann folgte.
Professor Schneider legte denTelefonhörer auf, starrte den Apparat einige Sekunden la ng mit verhaltener Wut an und richtete seinen Blick dann mit noch weniger verhaltenem Zorn auf sein Gegenüber.
Der Mann erwiderte das wütende Funkeln in seinen Augen auf die gleiche Weise, auf die er bisher auf alles reagiert hatte: mit einem angedeuteten Lächeln, das keines war. Dieses Lächeln war es, was Schneider am meisten provozierte. Dieser sonderbare – nein, sonderbar war das falsche Wort: sonderbar war er Schneider am Anfang vorgekommen; mittlerweile war er Schneider eindeutig unheimlich geworden – , dieser unheimliche Mann mit dem dünnen grauen Haar und der kleinen Narbe über dem linken Auge hatte etwas geschafft, was der Professor noch vor drei Tagen für unmöglich gehalten hätte. Schneider war alles andere als ein gewalttätiger Mensch, aber während der letzten Stunden hatte er immer öfter das Bedürfnis, diesen alten Mann zu packen und so lange zu schütteln, bis er ihm endlich sagte, was hier überhaupt gespielt wurde.